Das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim hat einen neuen
Chef. Er heißt Fritz A. Henn, ist 54 Jahre alt und kam von der State University
of New York at Stony Brook an das renommierte Institut, das zur Fakultät für
Klinische Medizin Mannheim der Universität Heidelberg gehört. Wer Henns
Werdegang und sein wissenschaftliches Weltbild vor Augen hat, braucht kein
Prophet zu sein, um dem Zentralinstitut einen tiefgreifenden Wandel
vorauszusagen. Ein Portrait von Michael Schwarz.
Erst nach seiner Ausbildung zum Biophysiker entdeckte Fritz A. Henn, der
neue Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit, seine Liebe zur
Erforschung der Seele. Mit seiner Doktorarbeit über zweilagige Lipid-Membranen,
die er in der Abteilung von Albert Lehninger an der Johns Hopkins University in
Baltimore schrieb, wurde das Interesse des heute 54jährigen für Nervenzellen
und Neurobiologie geweckt. "Wie kommunizieren Neuronen im Gehirn?",
fragte sich Henn, als er an die University of Virginia wechselte. Während eines
Forschungsaufenthalts in Schweden beschäftigte er sich mit intrazellulären
Kommunikationsmechanismen zwischen Nervenzellen und Astrozyten. Aufbauend auf
diesen Untersuchungen arbeitete der neue ZI-Chef über Dopamin und auditorische
Halluzinationen, jene Psychose-Symptome, bei denen man etwas hört, das nicht da
ist - Stimmen zum Beispiel. Schon damals stand die Theorie der Überaktivität
von Dopamin als Pathogenese-Faktor der Schizophrenie im Raum: Dopamin, ein
Botenstoff zwischen den Nervenzellen, ist bei motorischen Störungen wie
Parkinson seit langem von Bedeutung. Henn war früh überzeugt, daß der
Neurotransmitter auch bei der Schizophrenie eine Rolle spielt, doch war ihm
klar: die Krankheit muß komplizierter sein. Gemeinsam mit anderen ging er
diesen Fragen über Jahre hinweg nach.
Flashback, Staat Iowa, 1974: Nicht nur Wissenschaft füllte das Leben des
1941 in Pennsylvania geborenen Sohns deutscher Emigranten aus. Mit Suella,
seiner Frau, versuchte Henn trotz Jobs als assistant professor am
Psychiatrie-Department der University of Iowa und trotz zwei kleiner Kinder,
eine Ranch mit 40 Kühen, acht Pferden und einer Handvoll Gänsen zu betreiben.
"Wir waren abends sehr müde", erinnert er sich heute.
Wissenschaftlich ging es in dieser Zeit hingegen um eine andere Art von Tieren
und um ganz andere Fragen. "1977 bestand ein großes Problem in der
psychiatrischen Forschung darin, daß es keine guten Tiermodelle gab."
Jeder Chirurg experimentierte erst mit Hunden, bevor er die Ergebnisse auf den
Patienten übertrug. Damals, 1977, war man nicht einmal in der Lage, im Gehirn
einen Unterschied zwischen psychisch Kranken und Gesunden festzustellen. Ein
Tiermodell für die Psychiatrie, wie es Henn vorschwebte, war problematisch:
Psychische Erkrankungen äußern sich im Denken und Sprechen. Wie könnte man
sicher feststellen, ob ein Tier an Halluzinationen leidet? Bei seinen
Überlegungen griff Henn eine Krankheit heraus, deren Phänomenologie in
bestimmten Bereichen klar ist: die Depression. Schlaf- und Gewichtsstörungen,
vermindertes sexuelles Interesse, Konzentrations- und Lernschwierigkeiten sind
dabei klassische Symptome, die man auch bei Tieren messen kann.
Just in jenen Jahren war die wissenschaftliche Diskussion von einem neuen
Depressionsmodell geprägt. Aaron Beck von der University of Pennsylvania
stellte die Theorie auf, daß Depressive eine pessimistische Sicht der Welt
haben, verbunden mit einem Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht. Könnte man
diesen Ansatz auf Tiere übertragen? Wenig später entwickelte sich daraus das
learned helplessness model, das Modell der "gelernten Hilflosigkeit",
das Martin Seligman in Pennsylvania an Hunden beobachtet hatte. Einer Gruppe von
Hunden im Käfig trainierte Seligman Hilflosigkeit an, während andere ihr
"Schicksal" - leichte Stromstöße in einem Käfig - aktiv beeinflussen,
also abschalten konnten. Henns Gruppe übertrug dieses Modell auf Ratten. Das
erwies sich als nützlich für die Feststellung der Schaltkreise, die depressives
Verhalten vermitteln. Neuere Arbeiten konnten nachweisen, daß verschiedene
Neurotransmitter-Rezeptoren - auch je einer für Noradrenalin und für Serotonin
- sich spezifisch verändern, wenn sich depressives Verhalten entwickelt. Sie
kehren zu normalen Werten zurück, sobald man die Tiere behandelt.
Aufgrund dieser Ergebnisse "verstehen wir jetzt, daß die psychologischen
Einflüsse bei der Verhaltenstherapie und die biologischen Einflüsse durch
Medikamente im Gehirn über den gleichen Weg wirken. Für mich ist das
zukunftsweisend. Es ist jetzt auch möglich, bei diesem Modell die genetischen
von den Umwelteinflüssen zu trennen. Durch molekularbiologische Methoden sind
wir in der Lage festzustellen, welche Gene dieses depressive Verhalten
unterstützen."
Wer Henns Werdegang und sein wissenschaftliches Weltbild vor Augen hat,
braucht kein Prophet zu sein, um dem Zentralinstitut für Seelische Gesundheit
einen tiefgreifenden Wandel vorauszusagen. Er selbst äußert sich moderat:
"Ich hoffe, daß das Zentralinstitut in Zukunft die moderne biologische Forschung
ausbaut - auch auf der molekularen Ebene." Bereits im Mai wurde dafür die
neue Abteilung Molekularbiologie gegründet, die vom Schwerpunkt
Alzheimer-Forschung bis zur Grundlagenforschung über affektive Erkrankungen und
Schizophrenie ein weites Forschungsspektrum abdecken soll. "Wir versuchen,
mit biologischen Werkzeugen psychische Krankheiten zu verstehen", sagt
Henn. Verstärken wird das ZI auch die bildgebende Forschung. Mit der
Computer-Tomographie (CT) und der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) wurden
grundlegende Erkenntnisse über die Struktur des Gehirns bei psychischen
Krankheiten und funktionale Änderungen im Gehirn gewonnen. "Diese Methoden
zeigen uns, wo wir biologisch nachschauen müssen, und sie liefern uns neue
Ansatzpunkte." Noch vor 20 Jahren wußte man nicht mit Sicherheit, daß das
Gehirn von Schizophrenen sich biologisch vom Gehirn von Gesunden unterscheidet.
Henn bringt ein Beispiel aus der eigenen Forschung, das den Wandel belegt. Vor
fünf Jahren wandten er und seine Mitarbeiter im Brookhaven National Laboratory
"ein ganz einfaches Paradigma" an: fingertapping, alternierende
Oppositionsbewegungen der Finger. Bei dieser Bewegung kommt es zu einer
Aktivierung im motorischen Cortex der Gegenseite. Mit PET wurde gezeigt, wo
genau im Gehirn diese Aktivierung stattfand - bei allen Gesunden in sehr
ähnlicher Art und Weise. Schizophrene Patienten reagierten beim selben Versuch
jedoch völlig anders. Es fand sich bei ihnen eine diffuse Aktivierung
unterschiedlicher Gehirnareale. Henn will jetzt mit seinen Mitarbeitern und mit
Arbeitsgruppen der Heidelberger Psychiatrie und des DKFZ weitere Paradigmen zur
sensomotorischen Integration mit Hilfe des funktionellen Magnetresonanz-Imaging
(MRI) untersuchen. "Wir hoffen, daß wir irgendwann genauer identifizieren
können, wo im Gehirn die Informationsverarbeitung bei der Schizophrenie gestört
ist. Ich denke, das erlaubt eine bessere Vorstellung über das, was den
Kernpfeiler dieser Krankheit bildet."
Durch die Zusammenarbeit mit der Psychiatrischen Uni-Klinik in Heidelberg
und dem Deutschen Krebsforschungszentrum soll im Raum Mannheim/Heidelberg ein
Forschungsschwerpunkt für funktionelle Bildgebung entstehen. Mit zwei gleich
ausgerüsteten MRI-Siemens-Geräten, eins im Zentralinstitut und eins im
Krebsforschungszentrum, sollen mit schnellen Echo-Planar- Sequenzen in 100 bis
200 Millisekunden Bilder von der Funktion des Gehirns entstehen. Der erste
Schritt, der zur Zeit auf diesem Weg getan wird, ist der Aufbau und die
Vernetzung dieser Systeme. "Die Algorithmen sind der schwierige Teil in
der bildgebenden Forschung." Mathematiker und Informatiker seien hier
gefordert, um die komplizierten Daten interpretierbar zu machen.
In einem Zeitungsinterview bezeichnete Henn vor ein paar Wochen Alzheimer,
Schizophrenie und Depression als seine "Top- Themen". Allen gemeinsam
ist die Fehldisposition im Gehirn. Optimismus klang aus den Zeilen hervor,
Zuversicht, diese Vorgänge im Gehirn bald etwas besser zu verstehen. "Ja,
ich bin Optimist", bestätigt der 54jährige noch einmal auf meine
Nachfrage. In den letzten zehn Jahren sei in der Grundlagenforschung der
Neurobiologie "sehr viel passiert", sie sei "unglaublich weit
gekommen". Und welche Vision hat Henn für sein Fachgebiet im Jahr 2050? -
Er glaube, daß die Psychiatrie und die Neurologie wieder zusammenkommen.
"Wir werden für die großen psychiatrischen Krankheiten biologische Mechanismen
erkennen können." Im Jahr 2050 erwartet er auch mehr psychotherapeutische
Angebote, die problemorientierter eingreifen. "Über neuere
Forschungsansätze, die Neurobiologie und Psychotherapie interdisziplinär
verflechten, kann", so hofft Henn, "eine spezifischere therapeutische
Intervention gegen Zwangsneurosen, Angst und Depressionen möglich werden."