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Kurzberichte junger Forscher

Witwen und Waisen im Römischen Reich

Seit den siebziger Jahren dieses Jahrhunderts ist die Geschichte der Familie zu einem Schwerpunkt althistorischer Forschung geworden. Es fehlte aber bislang an sozialhistorischen Untersuchungen zu den Witwen und Waisen im Römischen Reich. Offenbar erschien das Thema der Forschung marginal. Tatsächlich läßt es uns jedoch tiefe Einblicke in die privaten und öffentlichen Verhältnisse der alten Welt in fast allen Lebensbereichen tun: Es gibt nicht nur über zahlreiche Aspekte, der Haushaltsstrukturen, der Familie und Verwandtschaft Aufschluß, sondern leistet auch einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der gesellschaftlichen Stellung der Frauen überhaupt, der Altersversorgung, der Armut oder der Christianisierung in der Spätantike.

Es liegt nahe, zunächst nach der Zahl der Witwen und Waisen zu fragen. Wenngleich die Voraussetzungen für demographische Forschungen auf dem Gebiet der Alten Geschichte nicht sehr günstig sind, lassen sich doch zumindest in ihrer Größenordnung plausible Ergebnisse erzielen. Da der Ehemann durchschnittlich acht bis neun Jahre älter war als seine Frau, wurde die Mehrzahl der Ehen, etwa 60 Prozent, durch den Tod des Mannes aufgelöst. Wiederverheiratungen von Witwen waren nach Ablauf des Trauerjahres gestattet, und sie waren sogar relativ häufig, aber sehr viel mehr Witwen als in der Forschung bislang angenommen wurde, blieben unverheiratet: Etwa 20 bis 25 Prozent der erwachsenen weiblichen Bevölkerung war verwitwet, erheblich mehr als in der Gegenwart. Im Römischen Reich war der Witwenstatus weniger als heute an ein bestimmtes Lebensalter gebunden und trotz einer hohen Sterblichkeit kein kurzes Übergangsstadium; zahlreiche Frauen lebten Jahre, ja Jahrzehnte als Witwen. Etwas vereinfachend ließe sich der "typische" Lebenslauf einer Frau im Römischen Reich wie folgt resümieren: Eheschließung mit 17 bis 18 Jahren, Verlust des Ehemannes mit 33 bis 35 Jahren, weiter zehn Jahre Witwenschaft. Dieser aus arithmetischen Mitteln gewonnene Lebenslauf verdeckt enorme Abweichungen in beide Richtungen, - eine Ehe mochte einige Monate, sie konnte aber auch Jahrzehnte währen - er läßt jedoch deutlich werden, welch große Bedeutung die Witwenschaft im Lebenszyklus der meisten Frauen im Römischen Reich hatte. Es zeigt sich ferner, daß die antike Witwe nicht typischerweise "alt" war. Und schließlich: Aufgrund des früheren Eintritts der Verwitwung und der Tatsache, daß beim Fehlen systematisch betriebener Empfängnisverhütung die Frauen in der Antike bis weit über das 30. Lebensjahr hinaus Kinder zur Welt brachten, hatten die Witwen in sehr vielen Fällen noch minderjährige Kinder zu versorgen; zirka 35 bis 45 Prozent der Kinder dürften ihren Vater verloren haben, bevor sie das 14. Lebensjahr erreicht hatten.

Erst vor dem Hintergrund des skizzierten demographischen Befundes läßt sich die wirtschaftliche und soziale Lage der Witwen und Waisen analysieren. Hierbei steht eine Frage im Mittelpunkt und bildet gleichsam den roten Faden der Arbeit: Wie wußten sich alleinstehende Frauen in einer patriarchalischen Gesellschaft wie der römischen zu behaupten? Der Quellenbefund ist eindeutig und läßt für optimistische Einschätzungen der Lage keinen Spielraum. Die materielle Versorgung der meisten Witwen blieb unzureichend. Die Mitgift sowie die vom Ehemann hinterlassenen Vermögenswerte sicherten ihnen lediglich in vergleichsweise wenigen Fällen den Lebensunterhalt; ein Arbeitsmarkt für freigeborene Frauen existierte nur in unzureichendem Maße. So waren die Witwen zumeist, wenn sie denn Söhne im Erwachsenenalter hatten, auf deren Unterstützung angewiesen. Die Abhängigkeit von den Kindern wurde oftmals nicht als angenehm empfunden; es ergaben sich hieraus familiäre Konflikte zwischen Witwen und erwachsenen Söhnen.

Vor allem ältere Frauen, die keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgehen konnten und die über keinerlei familiären Beistand verfügten, sowie Witwen, die minderjährige Kinder zu versorgen hatten, waren von Verarmung bedroht. Viele Haushalte von Witwen und Waisen waren verschuldet, die Frauen sahen sich genötigt, ihre Kinder in die Sklaverei zu verkaufen, Töchter der Prostitution zuzuführen. Zahlreiche Waisen mußten bereits in jungen Jahren einer Berufstätigkeit nachgehen, Waisenmädchen fanden wegen fehlender Mitgift überhaupt keinen Mann oder heirateten unterhalb ihres sozialen Standes. Ein großer Teil der Bettler in den antiken Städten rekrutierte sich aus Witwen und Waisen, nur wenn man sich ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung vergegenwärtigt, wird verständlich, warum etwa die christlichen Autoren unter den Almosenempfängern betont immer wieder auf diese Personengruppe verweisen. In welchem Maße die Armut sich aus den "Familienresten" speiste, ist in den einschlägigen Arbeiten zur Armut in der Antike bislang nicht hinreichend gewürdigt worden.

In der Spätantike (4./6. Jh.n.Chr.) führte die Durchsetzung des Christentums zu einer Sensibilisierung auch für die sozialen Probleme der Witwen und Waisen, denen der besondere Schutz der Kirche galt. Aber trotz vielfältiger karitativer Bemühungen verlor das Versorgungsproblem nichts von seiner Brisanz. Auch der Kirche gelang es nicht, ein Netz von karitativen Einrichtungen zu schaffen, mit dem sie dieser Armut hätte Herr werden können. Individuelle Almosen mochten im Einzelfall die Not lindern, waren aber nicht in der Lage, die Ursachen, die zur Armut als Massenphänomen führten, zu beseitigen.

Die Frau war in der römischen Gesellschaft in der Ehe dem Mann untergeordnet; ihre Aufgaben reduzierten sich zumeist auf die Kindererziehung und den Haushalt. Ich war zunächst - nicht zuletzt aufgrund der Lektüre neuhistorischer und sozialanthropologischer Arbeiten - von der Hypothese ausgegangen, daß der Tod des Mannes auch im Römischen Reich für die Ehefrau einen Zuwachs an Handlungsspielräumen, einen Gewinn an Autonomie und Unabhängigkeit, mit sich gebracht haben könnte. Diese Vermutung ließ sich durch den Quellenbefund nicht verifizieren: In vielen Bereichen waren die Möglichkeiten für Witwen, am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben zu partizipieren, vielmehr noch eingeschränkter als für Ehefrauen. Deutlich wird dies insbesondere im sexuellen Bereich: Witwen wurde in der Öffentlichkeit unterstellt, einen sittenlosen Lebenswandel zu führen. Diese Vorwürfe sind nicht als Beleg für eine tatsächlich freie Stellung der Witwen zu nehme; sie spiegeln vielmehr die Marginalität alleinstehender Frauen in einer patriarchalischen Gesellschaft wider. Den Witwen blieb jede eigenständige gesellschaftliche Rolle verwehrt. Sie waren kollektiv wenig geachtet, von Armut bedroht, eine Randgruppe.

Die menschlichen, alltäglichen Schicksale, die im Vordergrund meiner Untersuchung stehen, sind dem Betrachter auch der heutigen Gesellschaft keineswegs fremd. Gerade dies ermöglicht und fördert den notwendigen Dialog der antiken Sozialgeschichte mit den modernen Sozialwissenschaften. Erhält der Sozialhistoriker des Altertums von dieser Seite wertvolle Anregungen, so kann er doch auch seinerseits zu unserer Sensibilisierung für aktuelle Probleme marginaler gesellschaftlicher Gruppen beitragen.

Priv.-Doz. Dr. Jens-Uwe Krause: "Witwen und Waisen im Römischen Reich", Habilitationsschrift, 4 Bde., Steiner-Verlag, Stuttgart 1994/95

 

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