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Meinungen

Hermann Bujard, Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Heidelberg, beklagte auf dem Symposium "Biotech 1995 - 2000" im Mai dieses Jahres in Stuttgart die systembedingte Wissenslücke zwischen Hochschule und Industrie. Hier ein Auszug aus dem Redemanuskript.

Ich hätte mir gewünscht, daß auf dieser Tagung aus der biotechnologischen Forschung berichtet würde. Stattdessen wird über Biotechnologie diskutiert, denn der Anlaß dieser Tagung ist ja leider der besorgniserregende Zustand eines wirtschaftlich bedeutenden und höchst zukunftsträchtigen Gebietes in unserem Land, der Biotechnologie, das heißt der angewandten Disziplinen der Biologie: Medizin, technische Biologie und Landwirtschaft/Umwelt. Da die Leistungsfähigkeit einer angewandten Wissenschaft entscheidend auch von dem Niveau der entsprechenden Grundlagenforschung abhängt, wird auch nach deren Befindlichkeit zu fragen sein. Was nun sind die Ursachen für das Krankheitsbild, das uns solche Sorge macht? (Ich möchte im Folgenden versuchen, gerecht und deutlich zu sein, bin mir aber bewußt, daß dies nicht möglich ist!) Schenkt man den Analysen aus Politik und Wirtschaft, die seit Jahren landauf, landab verkündet werden, Glauben, so scheint sich ein Großteil des Problems auf einen relativ simplen Sachverhalt zu reduzieren: der mangelnde "Technologie- Transfer" - inzwischen ein populäres Zauberwort - aus der Grundlagenforschung in die Industrie. Dies würde implizieren, daß die Grundlagenforschung in Ordnung ist, daß sie Technologien zu transferieren hat, und daß dieser Transfer nur eingefordert und organisiert werden muß.

Ist diese Analyse richtig? Fragen drängen sich auf:
- Hat der Staat wirklich großzügig und uneigennützig die Grundlagenforschung gefördert, z. B. die Spitzenforschung an der Hochschule? Liegt deshalb hier ein schier unerschöpfliches Potential, das es nur zu mobilisieren und auszuschöpfen gilt?
- War es oder ist es überhaupt die Aufgabe der Universitäten, Technologien zu entwickeln?
- Hat die Industrie in den fetten Jahren - sich der Bedeutung der Grundlagenforschung für ihre eigene Forschung wohl bewußt - den Hochschulen in ihren Nöten zur Seite gestanden, so daß sie jetzt wenigstens mit einem gewissen moralischen Recht Forderungen an die Universitäten stellen kann?

Wenn diese Fragen alle mit ja beantwortet werden könnten, dann hieße dies, daß es einmal mehr die Professoren in ihren, allen Kritikern so liebgewordenen, Elfenbeintürmen sind - vaterlandslose Gesellen allemal -, denen man Versäumnisse vorwerfen muß und die endlich in die Pflicht zu nehmen sind. Wenn es weiter nichts wäre, hätten wir lediglich ein Scheinproblem - ein Ordnungs-Problem. Natürlich ist diese Analyse falsch und natürlich ist die Lage sehr viel komplizierter und verfahrener -, aber wir sehen Altgewohntes:
Denn fast immer, wenn Politik und Wirtschaft zusammen einen Notstand beklagen und ihn beheben möchten, läßt sich zweierlei voraussagen: Erstens kommt die Aktivität spät, meist zu spät; Warnungen und Hinweise, nicht selten von den oben zitierten vaterlandslosen Gesellen formuliert, sind jahre-, ja jahrzehntelang nicht beachtet worden. Zweitens sollen die vorgeschlagenen Maßnahmen kurzfristig greifen, dabei gedeihen selten Konzepte, welche zu notwendiger, grundsätzlicher Weichenstellung führen und nachhaltig wirken würden. Die Biotechnologie-Debatte ist dafür ja nur eines von vielen Beispielen.

Wenn in Deutschland die Ratlosigkeit groß ist, setzt man gerne Räte ein, zum Beispiel die Binnenräte der Bundesrepublik. Der wohl prominenteste ist der "Rat für Forschung, Technologie und Innovation", dem der Herr Bundeskanzler selbst vorsitzt und dessen Mitglieder er persönlich auswählt. Dann gibt es Räte, die die Situation nach außen regeln sollen: wie das "deutsch-amerikanische Konzil" (übrigens eine etwas merkwürdige Übersetzung des englischen Wortes council). Belustigend ist - wäre die Situation nicht zu ernst -, daß in diesen Räten vornehmlich Personen zu finden sind, welche die jetzige Misere durch ihr jahre-, manchmal jahrzehntelanges Wirken in prominenter Position mit zu verantworten haben. Diese Räte halten sich offensichtlich nicht lange mit scharfen Analysen der Situation auf, sondern quellen geradezu über mit Ratschlägen und Empfehlungen. Resultate solch hochkarätiger Beratung sind dann Maßnahmen und Forschungsprogramme, welche in erster Linie wohl Politikern einleuchten, und die wir nun auf nationaler Ebene zunehmend vom BMFT, jetzt BMBF, und auf europäischer Ebene zum Beispiel im vierten Rahmenprogramm der EG auf uns zukommen sehen.

Überall hat man als Hauptproblem Kommunikationsdefizite zwischen Hochschulforschung und Industrieforschung ausgemacht und schlägt Lösungen zur Überwindung derselben vor, ohne die Frage zu stellen, wie es zum Verstummen eines in der Vergangenheit und in vielen anderen Ländern selbstverständlichen Dialogs zwischen diesen Partnern kommen konnte. So werden gefordert der institutionalisierte Dialog, die Einrichtung von Schnittstellen - was immer das bedeuten mag, die Beschäftigung von Technologiemaklern und Transferstellen bis hin zu "Merkblättern für Erfinder".

Bedrohlicher als diese merkwürdigen Vorschläge sind jedoch die inhaltlich vielfach detailliert festgelegten Forschungsförderprogramme und ihre organisatorischen Vorgaben. Meist ist Gruppenbildung von Forschern die Voraussetzung für eine Förderung. Wiederum tauchen an prominenter Stelle Begriffe auf, die offensichtlich gewisse politische Ziele beschreiben, aber mit genuiner Forschungsförderung nichts zu tun haben: Verbundforschung, Datenknoten, Mobilität des Forschers. Oder eine beliebte Frage im Leitfaden für Antragsteller: Was kann die Industrie aus dem beantragten Projekt lernen? Der "europäische Mehrwert" eines Projekts soll beschrieben werden, die Koordination durch oder mit der Industrie wird gefordert - das heißt, diejenigen Kreise, denen meines Erachtens die größten Versäumnisse vorzuwerfen sind, sollen jetzt die in die Zukunft führenden Themen bestimmen?

Dagegen vermißt man Begriffe wie Originalität, Qualität, Suche und Förderung des ausgewiesenen Einzelforschers, der Talente! Und schließlich: Alle Programme haben einen klaren Anwendungsbezug; das heißt, an Universitäten soll im großen Stil Grundlagenforschung durch angewandte Forschung ersetzt werden.

Beim Lesen so mancher Programme fühlt man sich daher an die Forschungspläne im früheren Osten erinnert; auch da wurde angewandte Forschung von Staats wegen forciert, und man ging davon aus, daß Forschung prinzipiell planbar und nur eine Frage der Organisation sei. Die Resultate kennen wir; damals wie heute fehlte die Einsicht, daß originelle Leistungen nicht im demokratischen Verfahren oder durch Kumulierung von Mittelmaß zu erhalten sind.

Forschungspläne von Ministerien sind Pläne für Bekanntes! Unbekannt ist den Planern der hintergründige Satz Lichtenbergs: "Prognosen sind etwas schwieriges, insbesondere wenn sie die Zukunft betreffen!" Und vergessen wir nicht, daß Herr Röntgen die Entdeckung der Röntgenstrahlen nicht hätte beantragen können, ebensowenig wie Herr Fleming die Entdeckung des Penicillins und Werner Arber die Entdeckung der Restriktionsenzyme - eine der Grundvoraussetzungen für die heutige Gentechnik und moderne Biotechnologie!

Will man das Kommunikationsproblem von seiner Wurzel her angehen, so müssen zunächst sowohl an der Universität als auch in der Industrie forschungsgerechtere Strukturen geschaffen werden. Für die Großindustrie bedeutet dies zunächst zum Beispiel die Schaffung von echten innerbetrieblichen Forscherkarrieren. Auf beiden Seiten müssen forschungsfreundliche Organisationsformen mit einem Minimum an Hierarchie eingeführt werden. Die Universität muß finanziell saniert und aus der fiskalischen Detailsteuerung der Ministerien entlassen werden - der Verfassungsauftrag, Forschung und Lehre als öffentliche Aufgabe wahrzunehmen, gilt schließlich für die Universitäten! Dazu bedarf die Universität einer gründlichen Verwaltungsreform. Viele meiner Kollegen müssen dabei von dem blauäugigen Traum, der moderne Großbetrieb Universität ließe sich von "Viertelprofis" (A. Theiss) leiten, Abschied nehmen. Ziel aller Strukturreformen sowohl in der Industrie als auch an der Universität muß es sein, eine liberale und stimulierende Forschungsatmosphäre, in der Talente ihre Kreativität entwickeln können, zu schaffen - eingedenk der Erfahrung, daß Genies unbelehrbar sind und sehr unbequem sein können. Selektion auf Originalität, Leistung und Qualität statt auf Seniorität und Stallgeruch ist vonnöten! In einer solchen Struktur entsteht "peer pressure", die beste Medizin gegen Mittelmaß. Wo Mittelmaß fehlt, entsteht Transparenz, Selbstbewußtsein und Freude an der Forschung, ob angewandt oder grundlagenorientiert. Vor einem solchen Hintergrund wird es keine Kommunikationsprobleme und damit auch keine Wissenslücke geben, ganz einfach weil man sich für die gegenseitige Forschung interessiert, denn "Excellence is contagious".

 

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