Das Reich der Zahlen und Bilder
Der Mathematiker Willi Jäger leitet das Interdisziplinäre Zentrum für Wissenschaftliches Rechnen der Universität Heidelberg.
Leonardo da Vinci schreibt: "Wer die Mathematik verachtet, stürzt sich in das Chaos der Gedanken." Viele Vorgänge in der Welt sind so komplex, daß mathematische Methoden helfen müssen, sie einzuordnen und zu begreifen. Für den Mathematiker Willi Jäger ist es ein zentrales Ziel, Mathematik so zu entwickeln, daß sie anwendbar wird. Mit seinen Kollegen aus der Mathematik, aus Physik und Chemie gründete er das Interdisziplinäre Zentrum für wissenschaftliches Rechnen (IWR). Das Ziel: Entwicklung von mathematischen Modellen, Methoden und von Software zur Lösung komplexer wissenschaftlicher und technischer Probleme. "Wir waren die ersten in Deutschland, die sich das Wissenschaftliche Rechnen als Forschungsrichtung im Rahmen eines Institutes vorgenommen haben", berichtet der Institutsleiter voller Stolz. Die neue Disziplin umfaßt sowohl den Computereinsatz in den Wissenschaften (computational sciences) als auch die Verwendung wissenschaftlicher Methoden im Rechnereinsatz (scientific computing). Die Visualisierung von geometrischen Objekten, eine der Hauptaufgaben des IWR, war Jägers persönliches Hauptmotiv, sich für die Einrichtung des Zentrums einzusetzen. Ein Blick in das Labor der Graphikgruppe am IWR: Am Anfang stehen Zahlenkolonnen. Die Zahlen werden am Bildschirm zu farbigen Bildern mit dreidimensionaler Wirkung. Sie im richtigen Licht zu zeigen, bereitet den Schöpfern am Computer größere Schwierigkeiten. Wenn das Werk vollbracht ist, wandert der Betrachter durch spätgotische Kathedralen, die niemals erbaut worden sind, und aus Trümmerhaufen erscheinen antike Tempel in Postkartenqualität. Die Architektur ist dabei austauschbar, "ist nur unser wissenschaftliches Hobby", sagt der charmante 53jährige. Als früherer Sprecher des Sonderforschungsbereichs "Stochastische Mathematische Modelle" und nun Geschäftsführender Direktor des IWR, Mitglied des Präsidiums der Deutschen Mathematiker-Vereinigung und anderer Fachgremien, Wissenschaftlicher Beirat mehrerer Forschungseinrichtungen und aktiv in den Gutachtergremien der DFG, verbringt er zwangsläufig mehr Zeit im Forschungsmanagement, als es ihm lieb ist. "Ich habe ein Prinzip: Jede Sitzung benutze ich für die Diskussion einer wissenschaftlichen Fragestellung." In Jerusalem, wo er den Beirat eines Minerva-Instituts leitet, waren die Anwendungen des Heidelberger Parallelrechners, mit dem auch die Computerbilder berechnet wurden, ein solches Thema. Fotos von den gotischen Computerkathedralen begeisterten israelische Archäologen, die an der Ausgrabung und Rekonstruktion der antiken Stadt Beth-Shean arbeiten. Daheim kann sich der wissenschaftliche Nachwuchs nun in einem neuen Architekturprojekt mit Vergnügen das Handwerkszeug der modernen Computergraphik aneignen. Für Jäger sind solche Projekte wichtig, weil sich die Methoden, die an speziellen Problemen entwickelt werden, auch auf andere Situationen übertragen lassen. "Das ist ja gerade der Vorteil, den die Mathematik häufig bietet." An dem von der DFG geförderten "Orchideen-Projekt" - computerunterstütztes Design spätgotischer Gewölbe - konnte zum Beispiel die Erfahrung mit Computeranimationen und Filmen verbessert werden. Sie sind wichtig für die Visualisierung der Dynamik von Prozessen, zum Beispiel bei der Verbrennung oder der Katalyse. Und das "Ray-tracing", das Verfolgen der Lichtreflektionen, wird für andere Visualisierungen ebenfalls gebraucht. Die Arbeitsgebiete des IWR sind breit gestreut: re- aktive Strömungen, Diffusions- und Transportprozesse - zum Beispiel bei der Verbrennung oder in porösen Medien wie Katalysatoren und Böden -, Prozesse der Statistischen Physik und der Astrophysik, Dynamik und Design von Molekülen, Bildverarbeitung - zum Beispiel in der Medizin und in der Umweltphysik -, Optimierung von Prozessen etwa von Robotern oder Verkehrssystemen oder der Einsatz von Rechnern in den mathematischen Disziplinen selbst. Im Rahmen des IWR arbeiten zur Zeit etwa achtzig Wissenschaftler in diesen Bereichen. Was passiert an der Oberfläche von Katalysatoren? Welcher Hitze muß der Raumgleiter Hermes standhalten? Wie breiten sich Schadstoffe aus, die ins Grundwasser geraten sind? Solche Fragestellungen führen zu so komplexen mathematischen Gleichungssystemen, daß für ihre Lösung die besten mathematischen Methoden und Computer erforderlich sind. Selbst bei der Interpretation der von Computern berechneten Zahlen ist häufig die Vorstellungskraft überfordert. "Wir müssen versuchen, Teile des gewonnenen Zahlenmaterials bildlich darzustellen, um verwertbare Information zu erhalten." Bereits im Jahr 1978, bei einem Forschungsaufenthalt in Salt Lake City, lernte Jäger Computergraphiksysteme als wissenschaftliches Werkzeug schätzen. "Sie konnten dort alles, was wir uns mühsam vorstellen mußten, am Bildschirm visualisieren. Wir konnten Eigenschaften von Lösungen nichtlinearer partieller Differentialgleichungen, zum Beispiel Wellenlösungen, nur theoretisch erschließen. Dort war man in der Lage, mit der Computerausrüstung numerisch zu experimentieren und die Lösungen zu visualisieren." Solche Möglichkeiten wollte er auch für die Forschung in Heidelberg schaffen. Doch der Weg war lang und steinig. Der heutige Leiter des Interdisziplinären Zentrums hatte wegen vieler äußerer Hindernisse die Idee zunächst wieder aufgegeben, bis im Jahr 1984 Peter Lax, einer der führenden amerikanischen Mathematiker, ihr durch einen ausgezeichneten Vortrag über die Bedeutung der Mathematik in den Anwendungen einen neuen Impuls gab. Hervorgegangen ist das IWR aus dem von der DFG geförderten Sonderforschungsbereich "Stochastische Mathematische Modelle", den Jäger im Zeitraum von 1978 bis 1992 als Sprecher leitete. Die Heidelberger Wissenschaftler waren Pioniere der mathematischen Modellierung. Seit 1978 ist Heidelberg führend in der Entwicklung mathematischer Modelle in Physik, Chemie und den Biowissenschaften und dient international als Vorbild. Modelle für Prozesse in Natur und Technik zu erstellen, sie in mathematische Gleichungen umzusetzen, die Behandlung der mathematischen Modelle, die Auswertung und der Vergleich mit Experiment und Beobachtungen lassen sich effektiv nur interdisziplinär durchführen. Dem Sonderforschungsbereich fehlten allerdings die Rechentechniken, die entsprechenden Maschinen und die Mitarbeiter mit hinreichend guten Informatikkenntnissen. Vier Jahre vergingen seit der Vorlage eines Entwurfs für das IWR, bis die ersten Gelder für seine Einrichtung bewilligt waren. Nun ist es mit den modernsten Geräten der Graphik und Bildverarbeitung ausgestattet, und die Arbeitsgruppen verfügen über leistungsfähige Arbeitsplatzrechner. Das Herz des Rechnernetzes ist der Parallelrechner, der mit 128 Prozessoren zum Zeitpunkt seiner Anschaffung im Jahr 1989 der leistungsfähigste seiner Art an einer deutschen Universität war. Jäger ist sehr stolz auf die Tatsache, daß am IWR paralleles Rechnen in Lehre und Forschung erfolgreich betrieben wird. Für das IWR bekamen er und seine Kollegen einen neuen Sonderforschungsbereich "Reaktive Strömungen, Diffusion und Transport" und ein Graduiertenkolleg bewilligt. Das Wissenschaftliche Rechnen ist vielleicht des Forschers liebstes Kind, nicht aber seine einzige wissenschaftliche Tätigkeit. Als Mathematiker ist Jäger Analytiker, der sich besonders mit nichtlinearen Differentialgleichungen, Optimierung und deren Anwendungen beschäftigt. Er entwickelt Methoden zur mathematischen Modellbildung und leistet als Analytiker gedankliche Vorarbeiten, die für leistungsfähige und zuverlässige Rechenverfahren notwendig sind. "Bevor Sie den Computer bemühen, müssen Sie nachdenken. Das Ziel der Analysis ist es, herauszufinden, welche Eigenschaften man von den Lösungen eines Gleichungssystems erwarten kann, wie man sie berechnen kann." Ein Beispiel aus der mathematischen Biologie, zu der Jäger und mehrere seiner Mitarbeiter wichtige Beiträge lieferten, erläutert dies: Die in der Natur beobachtete Aggregation von Myxobakterien soll modelliert werden. Es gilt, die Wirkungsweise der Bewegungen zu erschließen. Die Mikroorganismen bewegen sich teilweise zufällig, teilweise gerichtet auf Bahnen, auf denen sie Schleim hinterlassen. Sie bevorzugen die Stellen, wo bereits Schleim abgesondert wurde, ein Effekt, der allerdings noch nicht alleine ausreicht, um die beobachtete Aggregation zu erklären. Es wird die Hypothese benötigt, daß die Bakterien chemische Signale aussenden, die Aggregationen stabilisieren. Bis aus den denkbaren mathematischen Modellen ein geeignetes herausgefunden wird, kann einige Zeit vergehen. Wenn die Parameter des Systems richtig gewählt werden, zeigt der Computer das, was in der Natur zu sehen ist. Zu untersuchen, wie das Beobachtete von den Daten abhängt, ist die häufig nicht leichte Aufgabe der Analysis. Die analytische Behandlung der nichtlinearen partiellen Differentialgleichungen, wie sie sich als kontinuierliches Modell für die Bakterienbewegung ergibt, ist eine der aktuellen Untersuchungen Jägers. Auf die Frage, was seine wissenschaftliche Laufbahn am meisten geprägt habe, fallen dem freundlichen Forscher, der eigentlich Philosophie der Naturwissenschaften studieren wollte, zuerst seine Lehrer ein. Sein Doktorvater Erhard Heinz und die Atmosphäre am Göttinger Institut. Wenn er an seine Zeit als Student in München und als Assistent in München und Göttingen zurückdenkt, wo er unbehelligt von Verwaltungsaufgaben die Freiheit der Forschung geniessen konnte, bekommt er leuchtende Augen. Besonders gerne erinnert er sich an Richard Courant, einen der großen, ehemaligen Göttinger Wissenschaftler, der von den Nationalsozialisten vertrieben wurde, und der in den Vereinigten Staaten großen Einfluß auf die Entwicklung der Mathematik und ihrer Anwendungen hatte. Nach dem Krieg hatte Courant sehr vielen deutschen Wissenschaftlern geholfen und vor allem den Nachwuchs gefördert. "Er wollte mich eigentlich schon nach meiner Promotion nach New York holen, aber da lehnte mein Chef ab. "Jäger muß erst habilitieren!" Mit der druckfrischen Habilitation in der Tasche ging er im Jahr 1969 als Gastwissenschaftler ans Courant-Institut, wo er praktisch Courants letzter Assistent wurde. "Offiziell sollte ich mit Courant an dem dritten Band des berühmten Werkes Courant-Hilbert schreiben. Aber dieser dritte Band kam nie zustande, da Courant darauf bestand, alles Geschriebene selbst durchzuarbeiten, was wegen seines Alters illusorisch war. Ich hatte wissenschaftlich völlige Freiheit und nutzte sie in der stimulierenden Atmosphäre des Institutes." Am Courant-Institut traf Jäger die damals besten Wissenschaftler in seinem Arbeitgebiet. Die Diskussionen mit ihnen und die zahlreichen Gespräche mit dem Senior Courant prägten seine wissenschaftliche Ausrichtung stark. Bereits nach einem Jahr New York bekam er im Jahr 1970 einen Ruf auf einen Lehrstuhl für Analysis an der Universität Münster. Er begegnete dort Heinrich Behnke, dem Begründer einer großen Mathematikerschule, dessen Auffassung von Mathematik und deren Lehre ihn ebenfalls beeinflußte. Vier Jahre später kam dann der Ruf nach Heidelberg. Entscheidend für ihn und seine gesamte Gruppe wurde hier die Arbeit am Sonderforschungsbereich, dessen hervorragende Möglichkeiten die Basis für die erfolgreiche wissenschaftliche Arbeit und die Umsetzung der zum Beispiel am Courant-Institut angeregten Ideen waren. Die Zusammenarbeit mit Physikern, Chemikern und Biologen in diesem Zentrum bestimmte seine weitere Forschung. Was er persönlich als Student und Doktorand so positiv erlebt hat, möchte Jäger heute seinen Studenten weitergeben. Trotz der vielen Verpflichtungen nimmt er sich Zeit für jede wissenschaftliche Frage, die ihm ein Student stellt. Er läßt vor allem den Doktoranden viel Freiheit, weil er glaubt, daß es für das Erlernen des wissenschaftlichen Arbeitens wichtig ist, sich selbst zu orientieren und frei zu arbeiten. Die Lehre ist ein Anliegen des Mathematikers, der zeitweise mehr als zwanzig Diplomanden und Dok- toranden zu betreuen hatte und aus Interesse an den jungen Studenten im kommenden Wintersemester die Anfängervorlesung halten wird. Doch neben dem Aufbau des Instituts, den Aufgaben des Sonderforschungsbereichs, den zahlreichen sonstigen Verpflichtungen und der eigenen Forschung reicht ihm die Zeit für die Lehre nicht. "Eine Person für das wissenschaftliche Management bräuchte man für dieses Institut." Und die hofft er eines Tages noch zu bekommen, ebenso wie den dringend benötigten Ausbau des IWR selbst. Zumal er den attraktiven Ruf nach München, der im vergangenen Jahr sein Forscherherz höher schlagen ließ, abgelehnt hat - wenn auch mit einer Träne im Auge. "Das IWR bietet sicher das bessere wissenschaftliche Umfeld, und die zugesagte Unterstützung durch Universität und Land war sehr positiv." Er hätte gerne noch einmal ganz neu begonnen und an dem Forschungsverbund Wissenschaftliches und Technisches Hochleistungsrechnen in München mitgearbeitet. "Aufzubauen macht mir Spaß. Allerdings am allermeisten an unserem eigenen Heidelberger Haus, da man dort in kürzerer Zeit einen Erfolg sieht als in der Mathematik."