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Max und Alfred Weber - zwei ungleiche Brüder

Den Namen Alfred Weber sucht man in der heutigen soziologischen Literatur meist vergebens. Einer der vormals prominentesten Vertreter einer Kulturgeschichte als Kultursoziologie verschwand aus der nationalen und internationalen Diskussion so gut wie ganz. Er wurde vornehmlich zum Objekt der Historiker, die in ihm zu Recht eine bemerkenswerte Gestalt der jüngeren deutschen Geschichte sehen. Ganz anders steht es um Max Weber, Alfreds älteren Bruder. Sein Werk ist heute Gegenstand der nationalen und internationalen soziologischen Diskussion. Verstärkt seit den 70er Jahren, als nicht nur in Deutschland eine Max Weber-Renaissance einsetzte, wurde es in den Auseinandersetzungen um die methodologischen und theoretischen Grundlagen einer historischen Soziologie richtungweisend. Am Institut für Soziologie, wo große Teile der Max-Weber-Gesamtausgabe ediert werden, analysiert Wolfgang Schluchter die Gründe für die unterschiedliche Wirkung der Werke der Brüder.

Warum ist das Werk des bereits 1920 verstorbenen Max Weber, in dem ja die epochale Erfahrung des stalinistischen, faschistischen und nationalsozialistischen Totalitarismus noch nicht reflektiert ist, heute aktueller als das seines 38 Jahre später verstorbenen Bruders, der dem Nationalsozialismus mutig widerstand und die zerstörerische Gefahr aller Totalitarismen für das Menschentum in seiner Lehre vom vierten Menschen so nachdrücklich beschwor? Diese Frage wird noch drängender, wenn man sich der vielen Gemeinsamkeiten zwischen beiden Brüdern erinnert: Durchliefen sie nicht ähnliche Ausbildungsgänge? Wurden sie nicht beide von der historischen Schule der deutschen Nationalökonomie geprägt? Wirkten sie nicht im Verein für Sozialpolitik häufig zusammen? Forderten sie nicht früh eine Parlamentarisierung des Kaiserreichs? Waren sie nicht überzeugte Liberale, wenn auch mit ausgeprägt nationalen Zügen? Führte sie nicht beide der Weg von der Nationalökonomie zur Kultursoziologie? Wenn sie aber in vielen Hinsichten so übereinstimmten, warum verstärkten sich ihre Werke nicht wechselseitig? Mehr noch: Warum machte sich Alfred Weber, dem ja - mit der Unterbrechung der Zeit des Nationalsozialismus - eine fast 50jährige Tätigkeit an Deutschlands ältester Universität beschieden war, nicht zu Max Webers Vollender? Denn dessen Werk blieb ja Torso, teilweise Programm.

Die Antwort auf diese Frage ist einfach: Die grundlegenden wissenschaftlichen und weltanschaulichen Überzeugungen der Brüder stimmten nicht überein. Zwar überschritten beide die Nationalökonomie in Richtung auf eine Soziologie, die sie in erster Linie als Kulturwissenschaft mit universalgeschichtlichem Anspruch verstanden. Aber jeder wählte dafür einen anderen Weg. Hinter den äußeren Gemeinsamkeiten verbargen sich fundamentale Differenzen. Die Spannungen zwischen den Brüdern reichten tief, und mit Max Webers Tod endeten sie nicht. Es scheint, als habe Alfred Weber ein Leben lang mit dem älteren Bruder gerungen, nicht zuletzt mit dessen Plädoyer für einen säkularen innerweltlichen Asketismus, der seinem "Künstlertum" zutiefst widersprach. Tatsächlich blieb wissenschaftlich ihr Gegensatz unüberbrückbar: auf der einen Seite der methodologische Individualismus einer verstehenden Soziologie als Handlungs-, Ordnungs- und Kulturtheorie, die soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und in seinen Wirkungen erklären will, auf der anderen Seite die intuitive Erfassung von kulturellen Totalitäten im Kontext kausal analysierbarer Daseinsformen. Tatsächlich blieb weltanschaulich ihr Gegensatz unüberbrückbar: auf der einen Seite die selbstkritische Bejahung einer fragmentierten und letztlich unversöhnten Moderne, auf der anderen Seite das Verlangen nach Ganzheit, nach Synthese, dessen Erfüllung Distanz zum aufklärerischen Rationalismus gebietet.

Ich möchte die Unvereinbarkeit der beiden Grundpositionen in drei Schritten zeigen. Zunächst gehe ich auf die Situation in den Jahren 1907/08 ein, als Alfred Weber einem Ruf auf den Lehrstuhl für Nationalökonomie an der Universität Heidelberg folgte und sich die beiden Brüder im Verein für Sozialpolitik an "Erhebungen über Auslese und Anpassung (Berufswahl und Berufsschicksal) der Arbeiter in den verschiedenen Zweigen der Großindustrie" beteiligten, wobei Alfred noch einem naturalistischen Wissenschaftsideal huldigte. Dann zeige ich, wie Alfred Weber schon wenig später die Nationalökonomie als intellektuelles Projekt überhaupt zugunsten einer vitalistisch fundierten Kultursoziologie aufgab. Schließlich zeige ich, daß Alfred Weber, nachdem er seine Kultursoziologie ausgearbeitet hatte, das Werk seines inzwischen verstorbenen Bruders geradezu als das eines Antipoden einstufte und nicht zuletzt deshalb den Anschluß an die neuere sozialwissenschaftliche Entwicklung verlor. Vor Alfreds Wechsel nach Heidelberg hatte Max Weber bereits mehrere Abhandlungen zur Methodologie der Kultur- und Sozialwissenschaften veröffentlicht. Auch seine große kulturhistorische Studie "Die protestantische Ethik und der ,Geist' des Kapitalismus" war in zwei Folgen erschienen und hatte eine heftige Kontroverse ausgelöst. Mit einer Kritik an einer Arbeit des einflußreichen Rechtsphilosophen Rudolf Stammler trug er 1907 außer methodologischen auch handlungstheoretische Überlegungen vor, die prononciert über den nutzenkalkulierenden Akteur der Grenznutzenschule hinauswiesen. Damit reflektierte er theoretisch, was unter anderem die Studie über den asketischen Protestantismus historisch erbracht hatte: daß nutzenkalkulierendes Handeln keinen Originalmodus darstellen muß, sondern eine unbeabsichtigte Folge des Strebens nach Erlösung sein kann.

Max Weber trug seine methodologischen Betrachtungen dabei auch im Blick auf die Problemkonstellation vor, wie sie sich seit dem 1883 ausgebrochenen Streit zwischen Gustav Schmoller und Carl Menger, zwischen der historischen und der theoretischen Richtung in der Nationalökonomie, entwickelt hatte. Mit Menger stimmte er darin überein, daß Sozialwissenschaftler bestrebt sein müssen, sowohl das Generelle wie das Individuelle der Wirklichkeit zu erforschen, mit Mengers Gegnern aber darin, daß das Problem der Individualität nicht durch Deduktion des Individuellen aus dem Generellen oder durch die Anwendung des Generellen auf das Individuelle zu lösen sei. Mit dem objektivistischen Lager stimmte er darin überein, daß fremdes Seelenleben für den wissenschaftlichen Beobachter letztlich undurchdringlich bleiben müsse, mit dem subjektivistischen Lager aber darin, "daß der Ablauf menschlichen Handelns und menschlicher Äußerungen jeder Art einer sinnvollen Deutung zugänglich", daß Nationalökonomie als Handlungswissenschaft also eine verstehende Wissenschaft sei. Freilich hielt Max Weber es für verfehlt, das Verstehensproblem mit dem Individualitätsproblem so zu identifizieren, daß sich Erklären und Verstehen ausschließen müssen, wozu die Subjektivisten neigten, besonders die Anhänger Diltheys und damit auch viele Vertreter der historischen Schule. Vielmehr suchte er, darin Heinrich Rickert folgend, das Problem der Individualität logisch zu lösen, unabhängig von der Qualität der Sachverhalte, um die es dabei geht.

Deshalb faßte Max Weber neben einer individualisierenden eine generalisierende und dennoch verstehende Wissenschaft ins Auge, wofür ihm die theoretische Nationalökonomie als Modell diente. Diese analysierte freilich in erster Linie erfolgsorientiertes, zweckrationales Handeln und den Koordinationsmodus des Marktes. Es gab aber auch eigenwertorientiertes, wertrationales Handeln, von Geltungsvorstellungen geleitet, und den Koordinationsmodus legitime Ordnung. Wollte man diese Zusammenhänge wissenschaftlich erfassen, mußte man über das ökonomische Paradigma hinausgehen. Dafür brauchte man eine allgemeinere Handlungs- und Koordinationstheorie. Der Schritt über die Nationalökonomie hinaus hatte also für Max Weber auch gleichsam theorieimmanente Gründe. Er führte ihn zu seiner verstehenden Soziologie als Kulturwissenschaft.

Es ist wichtig, sich klarzumachen: Durch diesen Schritt wurde das ökonomische Paradigma nicht beseitigt, sondern vielmehr in einen weiteren Bezugsrahmen gestellt und zugleich kulturwissenschaftlich begründet. Zeit seines Lebens sah Max Weber in einer richtig verstandenen Grenznutzenlehre den angemessenen theoretischen Zugang für die Analyse erfolgsorientierten Handelns und marktvermittelter Handlungskoordination. Im Spätwerk ist die Wirtschaftssoziologie gerade nicht abgestoßen, sondern erstmals richtig entfaltet. Sie wird zum integralen Bestandteil eines Projekts gemacht, in dessen Mittelpunkt die Untersuchung der Wirtschaft in ihrem Verhältnis zu den übrigen gesellschaftlichen Ordnungen und Mächten steht. Obgleich der Ablauf menschlichen Handelns und menschlicher Äußerungen gleich welcher Art sinnvoller Deutung zugänglich ist, läßt sich nicht alles, was sich in und mit Menschen ereignet, verstehen. Deshalb beschäftigte Max Weber schon früh das Verhältnis von nomothetischer Natur- zu nomothetischer Sozialwissenschaft. Wo liegen die Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnis? Heinrich Rickert hatte eine erste Antwort gegeben, die Max Weber überzeugte: bei der gedanklichen Ordnung von Individualität! Doch für Max Weber gab es von Beginn an darüber hinaus eine zweite: bei der Deutung des Ablaufs menschlichen Handelns und menschlicher Äußerungen! Weil wir Wirk- und Sprechhandlungen deuten können, "ergibt sich hier ein Plus von ,Berechenbarkeit', verglichen mit den nicht ,deutbaren' Naturvorgängen". Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis liegen auch dort, wo der Bereich des Deutbaren beginnt. Damit stellt sich die Frage, wie sich nomothetische Natur- und Sozialwissenschaften zueinander verhalten. Wie groß ist die Kluft, die zwischen ihnen besteht?

Genau an diesem Punkt entzündete sich die Kontroverse zwischen den Brüdern, als Alfred seinen Wechsel nach Heidelberg vorbereitete. Sie wurde wissenschaftlich ausgetragen, im Rahmen der oben erwähnten Enquete des Vereins für Sozialpolitik. Für Max Weber war diese vor allem von methodisch-grundbegrifflichem Interesse. Er wollte prüfen, wieweit man mit der naturwissenschaftlich verfahrenden Experimentalpsychologie bei der Erklärung von Leistungsvariationen in industriellen Arbeitsprozessen gelange und von wo an solchen Variationen nur mittels eines nationalökonomischen, sprich: handlungstheoretischen Bezugsrahmens beizukommen sei. Um die Reichweite der Experimentalpsychologie zu prüfen, wählte er die Arbeits- und Ermüdungsforschung Emil Kraepelins und seiner Schüler, für die ein ausgearbeiteter Begriffsapparat und theorieadäquate Meßinstrumente vorlagen. Kraepelin vertrat dabei eine materialistische, man kann auch sagen: eine anthropologische oder biologistische Perspektive insofern, als er die Einheit der Person in erster Linie aus dem Zusammenspiel physiologischer Grundeigenschaften zu erklären suchte, nicht aber aus einem physiologisch zwar fundierten, aber kulturell geprägten Charakter, den ein konstantes inneres Verhältnis zu letzten Werten ausmacht. In der Auseinandersetzung mit Emil Kraepelin interessierte Max Weber freilich nicht in erster Linie diese für eine Kulturwissenschaft zentrale Grundfrage, sondern der Nachweis, "wie unendlich kompliziert, ,energetisch' betrachtet, das Hineinspielen des Psychischen in die Psychophysik der Arbeit sich gestaltet", wie stark das physiologische Optimum der Kraftverwertung und das ökonomische Optimum der Kapitalverwertung, also physiologische und ökonomische ,Rationalität', divergieren, wie groß die Kluft zwischen einer naturwissenschaftlichen und einer nationalökonomischen Betrachtungsweise in Wirklichkeit ist. In Kraepelins somatischem Erklärungsmodell ließen sich ja psychische und soziale Einflußfaktoren, außer als abgeleitete, gar nicht unterbringen. Schon das war ein Hinweis darauf, daß von seinem Ansatz her ein Brückenschlag zu den Sozialwissenschaften strenggenommen nicht möglich war.

Bei der Enquete ging es freilich in erster Linie nicht um experimentalpsychologische, sondern um nationalökonomische Fragen. Aber das geschilderte Brückenproblem spielte mit hinein. Um die zukünftigen Mitarbeiter dafür zu sensibilisieren, entwarf Max Weber im Sommer 1908, zunächst, wie es scheint, in Absprache mit seinem Bruder, eine Denkschrift unter dem Titel "Erhebungen über Auslese und Anpassung (Berufswahl und Berufsschicksal) der Arbeiterschaft der geschlossenen Großindustrie". Die Denkschrift war als eine "vorläufige Unterlage für die Diskussion über die Methodik der beabsichtigten Erhebung" gedacht. Nachdem der Verein für Sozialpolitik offiziell beschlossen hatte, die Enquete durchzuführen, überarbeitete Max Weber die Denkschrift. Sie wurde unter seinem Namen an die Mitarbeiter verteilt. Alfred Weber verzichtete darauf, sie mit zu unterzeichnen, obgleich dies ursprünglich vorgesehen gewesen sein dürfte. Denn in einem Brief von Max an Alfred vom 19. September 1908 heißt es: "... also gut: ich habe die ,Denkschrift' allein unterschrieben und die nötigen Erklärungen in einer Vorbemerkung gemacht."

Warum unterschrieb Alfred Weber nicht die Denkschrift? Wir können nur spekulieren, aber auf relativ sicherem Grund. Einen ersten Hinweis gibt ein Brief Max Webers an den Psychiater und Psychologen Hans Walter Gruhle, dem er die Denkschrift mit der Bitte um Durchsicht übersandt hatte. Zunächst macht er seine wissenschaftlichen Absichten deutlich, dann folgt die persönliche Absicht und die für unseren Zusammenhang entscheidende Passage: "Ich habe sie, unter uns gesagt, auch deshalb gemacht, um meinem Bruder, der die Enquete mit leiten wird (ich habe andres zu thun, ziehe mich also zurück) die großen (wohl unübersteiglichen) Schwierigkeiten, auf diesem Wege dem Vererbungsproblem näher zu kommen, zu demonstrieren."

Zwei weitere Briefbemerkungen aus der Periode 1907/1908 können das Gemeinte erläutern. Bereits am 14. August 1908, wohl nach einem ,Familientreffen', hatte Max beruhigend an die Mutter geschrieben, Alfred sei durch seine neue Umgebung schon in seinen (Prager) Ansichten "modifiziert" worden - sein Glaube an die "Gottähnlichkeit der Naturwissenschaften" wanke, wenngleich "seine ,antimoralistischen' Präokkupationen" tief säßen. Ihn störten aber "diese ,Desorientiertheiten', die heute ja so häufig sind, nicht". Und in einem Brief von Max an Alfred vom 3. September 1907 ist von "etwaigen theoretischen Ansichtsunterschieden (über ,Kantianismus' oder dergl.)" die Rede, deren Tragweite "für die praktische Lebensauffassung" Alfred zu hoch veranschlage.

Theoretische Ansichtsunterschiede - um die handelte es sich nun aber sehr wohl, im Wissenschaftlichen wie im Weltanschaulichen. Denn gegen die Vorstellung von der Gottähnlichkeit der Naturwissenschaften hatte Max Weber in seinen methodologischen Abhandlungen seit 1903 polemisiert. Und gegen die Verabschiedung des Kantianismus zugunsten eines wie immer gefaßten ,Lebens' bot er seinen ganzen Scharfsinn auf. Kamen die handlungstheoretischen Engpässe der Nationalökonomie nicht gerade daher, daß nicht sauber zwischen kategorischem und hypothetischem Imperativ, zwischen Zweck- und Norm-Maxime, zwischen Erfolgs- und Geltungsvorstellung unterschieden wurde? War überhaupt eine Kulturtheorie zu entwickeln, wenn man nicht ebenso sauber zwischen Lebenswerten und Kulturwerten unterschied? Nimmt man die Bemerkungen in den Briefen zusammen, so spricht vieles dafür, daß tatsächlich fundamentale Differenzen die entscheidende Rolle spielten. Alfred Weber, geprägt vom Prager Milieu, wirkt auch im Rückblick gespalten. Da gibt es einerseits den eher konventionellen Nationalökonomen, andererseits den eher unkonventionellen Kritiker bürgerlicher (Sexual-) Moral und die Inkarnation der "Wissenschaft in ihrer leidenschaftlichsten Form". Wenig scheint zusammenzupassen: der nationalökonomische Theoretiker, der, ganz im Sinne von Carl Mengers exakter Theorie, eine Standortlehre vorbereitet, der Sozialpolitiker, der sich, ganz im Sinne der historischen Schule, um die Probleme der Hausindustrie kümmert, und der Antimoralist und Vitalist, der einen einseitigen und darin fruchtbaren wissenschaftlichen Gesichtspunkt verallgemeinert und ihn damit zur Weltanschauung erhöht.

Dies sollte sich nach dem Wechsel nach Heidelberg bald ändern. Alfred Weber erhielt den Ruf, weil man von ihm ein großes nationalökonomisches Werk im technischen Sinne des Wortes erwartete. Tatsächlich erschien der erste Teil der Abhandlung über die Standorte der Industrie, die "Reine Theorie des Standorts", mit einem mathematischen Anhang, im Jahre 1909. Aber schon der damals angekündigte zweite Teil, der nach der reinen die realistische Theorie bringen sollte, erblickte nicht mehr das Licht der Welt. Auch andere nationalökonomische Werke aus Alfreds Feder erschienen nicht mehr. Mit dem ersten Teil der Standortlehre hatte er sein "nationalökonomisches Meisterstück" abgeliefert - und sich von seiner Fachwissenschaft verabschiedet. Zwar hielt er sich auf dem laufenden und lehrte weiter, doch als intellektuelles Projekt hatte die Nationalökonomie ausgedient. Er suchte vielmehr von nun an, die fachwissenschaftliche durch eine ganzheitliche Sicht zu ersetzen. An die Stelle der Nationalökonomie trat die Kultursoziologie. Dies vollzog sich natürlich nicht von heute auf morgen. Außerdem fielen Grenzüberschreitungen damals nicht aus dem Rahmen, zumal manche Disziplingrenzen noch offen waren, etwa zwischen Philosophie und Psychologie, Staatslehre und Rechtswissenschaft, Nationalökonomie und Soziologie. Aber es ging eben nicht einfach um einen Wechsel der Disziplin, sondern darum, überhaupt aus disziplinärer Verengung auszubrechen. Es ging um ein Überschreiten jeder Fachwissenschaft, weil sie nicht zu den innersten Zusammenhängen vordringen kann. Dies Verlangen ist schon unmittelbar nach der Veröffentlichung der Standortlehre erkennbar. Der Charakter von Alfred Webers Texten ändert sich. Sie sind nicht mehr technisch, sondern literarisch-essayistisch, nicht mehr analytisch, sondern synthetisch. Sie zielen nicht darauf ab, die Nationalökonomie gleichsam immanent zu kritisieren, um sie, wie es Max Weber vorhat, zu erweitern und neu zu fundieren. Sie lassen diese vielmehr einfach hinter sich.

Ein Schlüsseltext für diesen Wandel ist in meinen Augen die Flugschrift über Religion und Kultur, die Alfred Weber 1912 im Eugen Diederichs-Verlag herausbrachte. Sie entstand aus einem Vortrag, den er 1911 auf Einladung des Vereins "Freie Schule" in Prag vor mehr als 600 Zuhörern gehalten hatte. Symptomatisch ist schon die Wahl der literarischen Gattung und des Verlegers. Flugschriften dienen dazu, die Öffentlichkeit aufzurütteln, sie haben Appellcharakter, und Eugen Diederichs stand mit seinem Verlag für eine kuriose Sammlung antirationalistischer Kulturströmungen aus neuidealistischem und neumystischem Geist. Max Weber nannte dies ein Warenhaus für Weltanschauungen. Daß sein jugendbewegter Bruder daran intensiv mitwirkte, mußte seine schlimmsten Befürchtungen bestätigen.

Alfred Weber verglich in dieser Flugschrift die Situation der Gegenwart mit der der Spätantike: Die alten Kulturträger hätten ihre Kraft verloren, Versuche der Kulturerneuerung aber stießen auf Skepsis, besonders bei Intellektuellen, obgleich gerade bei ihnen die Sehnsucht nach neuer Synthese verbreitet sei. Die alten Kulturträger, das seien vor allem die institutionalisierten Religionen gewesen, die sich aber nicht revitalisieren ließen. Zu einem neuen Kulturträger aber könne nur werden, was gleichsam auf Augenhöhe mit ihnen operiere, also in eine religiöse Dimension vorstoße. Dies setze voraus, daß man zunächst einmal die alten Fesseln sprenge. Sie zeigten sich in der Einschnürung des Lebens durch die rationalisierten Apparate: den Verstandesapparat, den Verwaltungsapparat und den Selbstzwangapparat. Ihre Träger seien die moderne Wissenschaft, der moderne Kapitalismus und die moderne Bürokratie sowie die bürgerliche Lebensführung innerweltlicher Berufsaskese. Sie hätten zwar äußere Lebenserleichterung, aber auch innere Verarmung, insbesondere aber die Deformation der Sexualität und aller starken egoistischen Triebe gebracht. Aus dem Zusammenspiel von verstandesmäßigem Erkennen, formal-rationaler Daseinsformung und asketischer Lebensführung könnten deshalb letztlich nur Durchschnittsmenschen erwachsen - oder gar rebarbarisierte Menschen, wie er an anderer Stelle, eine Formulierung Theodor Mommsens aufgreifend, mit Blick auf den sogenannten Bismarck-Deutschen sagt.

Blicke man nach Anhaltspunkten für Erneuerung, nach Vorbildern aus, so komme dafür der oft genannte Immanuel Kant gerade nicht in Frage. Er habe mitgewirkt an jenem Rationalismus, mit dem zu brechen die entscheidende Voraussetzung für eine wirkliche Kulturerneuerung sei. Denn: "Erlöst sind wir von diesen Anschauungen und von diesem Rationalismus erst dadurch, daß wir überhaupt diese ganze Art intellektuellen Fassens des Daseins nicht mehr als die letzte, nicht mehr als die einzige und vor allem (das ist wohl das größte und epochemachende Verdienst von Bergson) nicht mehr als diejenige ansehen, welche uns die tiefsten seiner inneren Zusammenhänge geben und entschleiern kann."

Nicht Kant, sondern Bergson, nicht die Ratio, sondern das Erleben, nicht die gedankliche Analyse, sondern die erschaute Synthese werden für die als notwendig erachtete kulturelle Erneuerung aufgerufen, nicht Strömungen einer radikalisierten Aufklärung also, sondern solche eines Neuromantizismus, ja einer Gegenaufklärung. Gegen diese in der Zeit weitverbreiteten Strömungen kämpfte Max Weber. In allen entscheidenden Punkten bezog er Gegenposition. Es ist kaum zufällig, daß sich der Konflikt der Brüder auch an Gustav Wyneken entzündete. Alfred Weber hing ihm an, Max Weber sah in ihm einen Verführer der Jugend. Wo Alfred Weber gegen den modernen Rationalismus kämpfte, wurde dieser von Max Weber gerade verteidigt, mit Qualifikationen zwar, aber unbeugsam.

Die unterschiedlichen Formungen des Weltbilds schlugen sich auch im Wissenschaftsverständnis nieder. Als Alfred Weber 1927 seine Ideen zur Staats- und Kultursoziologie erscheinen ließ, in denen er bereits Veröffentlichtes zusammenstellte, benutzte er die neu geschriebene Einleitung dazu, seine Position gegen andere abzugrenzen, auch gegen Max Weber. Die wichtigste Feststellung: seine Kultursoziologie unterscheide sich von der seines Bruders prinzipiell. Wie lautet die Selbstcharakterisierung?

Kultursoziologie sei Orientierungswissenschaft, Evidenzwissenschaft, existentielle Wissenschaft und Ganzheitswissenschaft. Ihre Aufgabe bestehe darin, "im Kern durchaus irrationale, historische Kollektivitäten in ihrer Einheit" zu erfassen, was nur intuitiv gelingen könne. Freilich gelte dies strenggenommen nur für die Kulturbewegung, die eine Teilbewegung der historischen Gesamtbewegung sei. Daneben gebe es die Gesellschafts- und die Zivilisationsbewegung. Während der Gesellschaftsprozeß "die ursprünglichst bewegenden, die naturalen Trieb- und Willenskräfte in Allgemeinformen" bringe, baue sich der Zivilisationsprozeß "auf der Bewußtseinsaufhellung und dem geistig- technischen Fortschritt" auf. Der Kulturprozeß aber sei nichts anderes als "die seelisch-geistige Durchdringung der von diesen beiden gebotenen Lebenssubstanz".

Stellt man dieser Selbstcharakterisierung Max Webers Ansatz einer verstehenden Soziologie als einer Kulturwissenschaft gegenüber, so findet man tatsächlich nur prinzipielle Unterschiede: Sie ist nicht Orientierungswissenschaft, sondern diagnostische Wissenschaft, nicht Evidenzwissenschaft, sondern erklärende Wissenschaft, nicht existentielle Wissenschaft, sondern wertbeziehende und zugleich werturteilsfreie Wissenschaft, nicht Ganzheitswissenschaft, sondern Handlungswissenschaft. Zwar will auch sie orientieren, aber nicht durch Wertvermittlung, sondern dadurch, daß sie mit unbequemen Tatsachen bekanntmacht. Zwar will auch sie zu Evidenzen kommen, aber nicht durch Intuition, sondern dadurch, daß sie streng den Kategorien der objektiven Möglichkeit und adäquaten Verursachung folgt. Zwar will auch sie komplexe Zusammenhänge erkennen, aber nicht durch Totalitätserfassung, sondern dadurch, daß sie die unübersehbare Mannigfaltigkeit des Wirklichen unter einseitigen Gesichtspunkten umbildet. Auch könnte man sie eine existentielle Wissenschaft nennen, aber nicht, weil sie dem Sinngebungszwang nachgibt, sondern weil sie neben der Tatsachenerkenntnis auch die Selbsterkenntnis fördert, indem sie nicht nur darüber aufklärt, was man kann, sondern auch darüber, was man will.

Vergleicht man die beiden Ansätze, so wird deutlich, daß bei Alfred Weber wichtige Grundfragen der Kultursoziologie wie der Sozialwissenschaft überhaupt ungeklärt bleiben: das Verhältnis von Objektivität und Relevanz, von Verstehen und Erklären, von Tatsachenurteil und Werturteil, von Handlung, Ordnung und Kultur. Anders als bei Alfred Weber, finden sich bei Max Weber auf diese Grundfragen begründete Antworten, wenn auch nicht durchweg solche, die man heute noch umstandslos übernehmen kann. Doch die Wertbeziehungslehre, die Lehre vom verstehenden Erklären, die Lehre vom Sinn der Werturteilsfreiheit und die in die Architektur der soziologischen Grundbegriffe eingebaute Mehr-Ebenen-Analyse führen mitten hinein in zeitgenössische Diskussionen. Max Webers Vorschläge sind hier anschlußfähig. Die Dreiteilung des geschichtlichen Gesamtprozesses und der Dualismus von Kausalbetrachtung und intuitiver Ganzheitserfassung sind es nicht. Es ist also doch nicht zufällig, daß die Werke der beiden Brüder eine so ungleiche Wirkung hatten. Bei Alfred Weber regiert das Erleben den Gedanken, und seine Kultursoziologie hat teil an den antirationalistischen Strömungen des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Das ist bei Max Weber anders. Auch sein Werk trägt natürlich zeitbedingte Züge, aber in ihm herrscht der Geist einer reflexiv gewordenen und damit radikalisierten Aufklärung. Doch gibt es nicht wenigstens eine Konvergenz zwischen den Brüdern? Fürwahr, es gibt sie, in ihrem kompromißlosen Eintreten für ein freies und selbstbestimmtes Menschentum im institutionellen Rahmen der Demokratie.

Autor:
Prof. Dr. Wolfgang Schluchter
Institut für Soziologie, Sandgasse 9, 69117 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 29 78

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