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Strukturen der oeffentlichen Sphaere in China

Die Foerderung einer oeffentlichen Sphaere in China, von der Entwicklung eines Rechtswesens, welches die Menschenrechte des Einzelnen sichert, bis hin zu einer freien Presse steht im Mittelpunkt des Interesses der Heidelberger Forschungsgruppe "Strukturen der oeffentlichen Sphaere in China". Unter Leitung von Rudolf G. Wagner arbeiten am Sinologischen Seminar zwei Dozenten, zwei Doktoranden und fuenf Magistranden an diesem Projekt. Ausserdem drei Postdoktoranden, die ueber das DFG- Schwerpunktprogramm "Transformationen der europaeischen Expansion" durch die Chiang Ching-kuo Foundation, Taiwan, und das japanische Kultusministerium (Mombusho) finanziert werden.

Spaetestens seit dem Kollaps der sozialistischen Staaten in Osteuropa wird die Frage einer dort entstehenden "civil society" intensiv diskutiert. Dabei findet besondere Bedeutung, inwieweit Formen derselben sich bereits vor dem Kollaps herausgebildet haben, zu ihm beitrugen und in der darauffolgenden Uebergangsphase eine konsensuale Basis fuer die Form des Austragens gesellschaftlicher Konflikte geben konnten. Seit dem Beginn der oekonomischen und zum Teil politischen Reformen in China Anfang der 80er Jahre stellt sich diese Frage auch fuer die Volksrepublik China. Innerhalb Chinas selbst gibt es vor allem seit der Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989 bei Dissidenten im In- und Ausland, jedoch auch bei einigen hochrangigen Parteikadern eine Diskussion ueber moegliche und notwendige Schritte zur Entwicklung einer oeffentlichen Sphaere und einer "civil society" in China, die dazu beitragen kann, die Gesellschaft - etwa nach einem Kollaps der kommunistischen Herrschaft - vor einem Abgleiten in einen Buergerkrieg zu bewahren.

In die Ueberlegungen der mit China befassten auslaendischen Maechte sind aehnliche Gedanken eingegangen. Die Bundesregierung etwa erklaerte in einem Programmpapier zur Asienpolitik vom Oktober 1993 die Foerderung einer "civil society" in China mit ihren vielfaeltigen Aspekten, von der Entwicklung eines Rechtswesens, welches die Menschenrechte des Einzelnen sichert, bis hin zu einer freien Presse, zu einem ihrer aussenpolitischen Ziele.

Innerhalb der sinologischen Diskussion hat sich, seit Habermas' ,Strukturwandel der Oeffentlichkeit" (1962), der vor einigen Jahren in englischer und franzoesischer Uebersetzung erschienen ist, eine lebhafte Debatte ueber die Existenz einer "civil society" bereits im vormodernen China und ueber die Strukturen der oeffentlichen Sphaere in China entwickelt. Zwei Positionen haben sich herauskristallisiert. Die eine sieht die Entwicklung einer oeffentlichen Sphaere in China seit Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem als Ergebnis einer "Chinese response to the West", die andere sieht in den internen Strukturen vormoderner chinesischer Staedte, etwa den Gilden, Landsmannschaften, privaten Akademien und Buchverlagen, bereits die wichtigsten Keime. Beide Positionen leiden noch an etlichen Maengeln und haben gegenueber der wissenschaftlichen Diskussion ueber die oeffentliche Sphaere im Europa des 18. Jahrhunderts eine erhebliche Verspaetung. Der stark sozio-oekonomische Erklaerungsansatz von Habermas wird weiter verfolgt, obwohl er inzwischen einem differenzierteren "kulturellen" Erklaerungsansatz gewichen ist, etwa in Chartiers "Les Origines Culturelles de la Revolution Fran‡aise". Dieser Ansatz traegt etwa der Tatsache Rechnung, dass die koenigliche Autoritaet in Frankreich wohl mehr durch Trivialisierung des Wortes "royal" bis hin zu den pornographischen Schilderungen des koeniglichen Intimlebens unterminiert wurde als durch politische Pamphlete und Alemberts "Encyclop‚die".

Die sinologische Diskussion bleibt der einseitigen Beachtung der Aktivitaet "gesellschaftlicher" Kraefte - im Gegensatz zu ,staatlichen" - bei der Entwicklung der oeffentlichen Sphaere treu, obwohl in der europaeischen Diskussion laengst die wichtige Rolle des Staats als aktivem Teilnehmer an der Gestaltung der oeffentlichen Sphaere herausgearbeitet wurde. Die Aufmerksamkeit richtet sich dadurch etwa auf die von Geschaeftsleuten veroeffentlichten Zeitungen, waehrend die Amts- und Staatsparteizeitungen kaum beachtet werden.

Innerhalb der europaeischen Diskussion ist zwar vor allem durch die Arbeiten Darntons die Bedeutung des Auslands - konkret von Neufchƒtel in der Schweiz - fuer die Entwicklung der oeffentlichen Sphaere in Frankreich herausgearbeitet worden, jedoch dieser Punkt als solcher kaum thematisiert worden. Fuer die chinesische Diskussion waere eben dieser Punkt von besonderer Bedeutung durch die offensichtlich wichtige Rolle etwa der Vertragshaefen im 19. und 20. Jahrhundert. Schliesslich ist die sinologische Diskussion noch sehr konzeptionell und versucht vor allem, auf der Basis bereits vorhandener Studien zu Aussagen zu kommen. Aus der Frage nach den Strukturen von Oeffentlichkeit in China und ihrem Wandel beginnen sich erst allmaehlich neue empirische Forschungsprojekte zu entwickeln.

Die Heidelberger Forschungsgruppe "Strukturen der oeffentlichen Sphaere in China" hat sich die Aufgabe gestellt, mit empirischen Studien zu dieser Diskussion beizutragen. Sie geht von einem formalen Begriff der oeffentlichen Sphaere als derjenigen aus, in der die Konflikte zwischen Staat und Gesellschaft und innerhalb der Gesellschaft selbst im wesentlichen verbal und ohne Gewaltanwendung ausgetragen werden. Die in Teilen der Diskussion des 18. Jahrhunderts aufkommende Vermutung von der kollektiven Rationalitaet der gebildeten Teilnehmer an der Oeffentlichkeit, die von Habermas zum entscheidenden Kriterium erhoben wurde, wird von den Teilnehmern an der chinesischen Oeffentlichkeit weitgehend nicht geteilt. Gleichwohl existiert diese Sphaere auch in China. Die Forschungsthemen der Gruppe richten sich sehr stark nach den Einzelinteressen, sodass sich nur allmaehlich ein Zusammenwachsen der Ergebnisse einstellen wird. Die Themen umfassen im vormodernen Bereich die traditionelle oeffentliche Sphaere, zum Beispiel Diskussionen innerhalb der Beamtenschaft oder die Rolle der "oeffentlichen Meinung" in dynastischen Geschichtswerken, sowie das vormoderne Buch, und im modernen Bereich die Zeitungsgeschichte sowie die Kultur- und Sozialgeschichte.

Autor:
Prof. Dr. Rudolf G. Wagner
Sinologisches Seminar, Sandgasse 7, 69117 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 24 40

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