Das Grab als heiliger Ort
Seit 1978 arbeitet das Aegyptologische Institut der Universitaet Heidelberg in der Felsgraebernekropole von Theben im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit insgesamt 2,2 Millionen Mark gefoerderten Projekts "Ramessidische Beamtengraeber" an der Freilegung, Restaurierung und Veroeffentlichung von Grabanlagen der Ramessidenzeit. Unter Leitung von Jan Assmann waren fast alle Wissenschaftler, Studenten und nichtstudentischen Mitglieder des Instituts an dem Forschungsvorhaben, das 1994 auslief, beteiligt.
Dem Projekt "Ramessidische Beamtengraeber" lag die Hypothese zugrunde, dass der hochkomplexe und in seiner Herkunft raetselhafte Bautyp des spaetzeitlichen "Grabpalastes" in entscheidenden Formelementen auf die Ramessidenzeit,13.-12. Jh.v.Chr., zurueckgeht, und dass hier nicht einfach, wie bisher immer angenommen, der Grabtyp der 18. Dynastie fortgesetzt wird, sondern etwas voellig Neues entsteht. Diese Hypothese liess sich verifizieren. Den neuen Grabtyp haben wir "das Grab mit gewundenem Abstieg" genannt, weil uns der an die Stelle des senkrechten Schachts getretene mehrfach geknickte oder gewundene spiralige Treppengang das auffallendste Merkmal schien. Man haette es aber auch das Pyramidengrab nennen koennen oder das Grab mit nach aussen abgeschlossenem Vorhof. Diese drei Formen - Pyramide, Hof und gewundener Abstieg - kennzeichnen den neuen Grabgedanken. Unser Interesse galt aber nicht nur der Herausarbeitung des Formenwandels, sondern auch seiner Erklaerung in der aegyptischen Religionsgeschichte.
Ein heiliger Ort zieht eine Grenze zwischen sich und dem Profanen, zwischen innen und aussen. Ein heiliger Ort muss begehbarer Raum sein, und man muss eine Grenze ueberschreiten, um hineinzukommen. Innen gelten andere Gesetze. "Zieh deine Schuh aus, denn der Grund, da du stehst, ist heilig" (Ex 3.5; Josua 5.15). So verstanden ist das Grab normalerweise kein heiliger Ort. Es hat bestenfalls Anteil an der Heiligkeit einer Nekropole. Das gilt normalerweise auch fuer aegyptische Graeber. Die Grundfunktion des Grabs, die fuer alle, auch die bescheidensten Graeber gilt, ist sicher nicht die, einen heiligen Ort auszugrenzen, sondern die, den Leichnam zu bergen und ein Zeichen zu setzen, als Ort der Erinnerung und vielleicht auch einer Wasserspende.
Der heilige Ort zieht eine Grenze zwischen sich und dem Profanen, dem Aussen. Das heisst aber nicht, dass innerhalb dieser Grenze das Heilige selbst einfach anwesend waere. Innerhalb des ausgegrenzten Bereichs ist allenfalls ein Kontakt mit dem Heiligen moeglich. Der heilige Ort stellt den raeumlichen Rahmen her fuer diesen Kontakt. Wir muessen daher zum Begriff der Grenze einen weiteren hinzunehmen, der fuer den Begriff des heiligen Ortes konstitutiv ist: den Begriff des Kontakts. Der heilige Ort besitzt in seinem Zentrum eine "Schnittstelle", eine Schwelle zwischen dieser und einer anderen Welt. Das Heilige gehoert immer zu einer anderen Welt. Heilige Orte sind solche Schnittstellen oder Kontaktzonen zur anderen Welt. Es gibt fuer sie ueberhaupt kein sinnfaelligeres Symbol als das der aegyptischen "Scheintuer". Sie markiert den Ort der Opferdarbringung und des Opferempfangs, den Ort, bis zu dem der Tote aus dem Jenseits sich nahen kann und bis zu dem andererseits der Totenpriester an den abwesenden Toten herankommt. Die Scheintuer ist zugleich Gedaechtniszeichen und Kultstelle sowie Grenze und Kontaktstelle zwischen Diesseits und Jenseits. Aber sie selbst ist noch kein heiliger Ort. Erst in Verbindung mit dem Element der Grenze, die den Raum des durch die Scheintuer ermoeglichten Kontakts ausgrenzt, entsteht ein heiliger Ort.
Jedes Grab, auch das heutige, uns vertraute, erfuellt zwei Funktionen: Es birgt den Leichnam und setzt ein Erinnerungszeichen mit Namen und Lebensdaten. Das aegyptische Grab, vor allem in seinen aufwendigen, monumentalen Formen, steigert diese Funktionen. Es entfaltet das "Erinnerungszeichen" zu grossartigen biographisch- repraesentativen Bildern und Inschriften, und es baut die Berge des Leichnams zu nicht minder grossartigen, hermetisch abgeschlossenen Sargkammern aus. Aber damit ist die Grundstruktur des aegyptischen Grabs noch nicht erfasst. Zu den beiden Extrempolen "Gedaechtnis", dem nach aussen gewandten, oeffentlichen Aspekt des Grabs, und "Geheimnis", seinem nach innen gewandten, verborgenen, jede Oeffentlichkeit hermetisch blockierenden Aspekt, tritt ein drittes, vermittelndes Element konstitutiv hinzu, der Kult. Das aegyptische Grab ist auch der Ort eines Totenkults, fuer den der Grabherr je nach seinen Moeglichkeiten durch Stiftungen Vorsorge trifft und der dann nach seinem Tod von seinen Nachkommen und bezahlten Totenpriestern theoretisch ad infinitum weitergefuehrt werden soll. Auch fuer diesen Kult hat das Grab den raeumlichen Rahmen zu schaffen.
Gedaechtnis, Kult und Geheimnis sind also die Aspekte des monumentalen aegyptischen Grabs. Die Gedaechtnis-funktion des Grabs dient der Fortdauer des Verstorbenen im sozialen Gedaechtnis der Gemeinschaft. Die Kultfunktion dient seiner Versorgung mit Opfergaben und liturgischen Rezitationen. Die Geheimnisfunktion dient seiner unantastbaren Wohlbewahrtheit im Schoss der Erde. Die raeumliche Verteilung dieser drei Funktionen sieht natuerlich so aus, dass die Gedaechtnisfunktion am weitesten aussen verwirklicht wird, sie gehoert zum Aspekt der Grenze, waehrend die Kultfunktion ihr Ziel und Zentrum in der Schnittstelle zwischen dieser und jener Welt hat. Die Geheimnisfunktion dagegen liegt jenseits dieser Schnittstelle und damit auch jenseits des heiligen Orts, im Unbetretbaren.
Paradoxerweise sind wir gerade ueber den Geheimnisaspekt des Grabs am allerbesten unterrichtet, weil die Grabherren eine Vielzahl von Texten mit ins Grab genommen haben, die gerade diesen Aspekt zum Thema haben, die sogenannte Totenliteratur. Aus ihr geht hervor, wie die Aegypter den Geheimschutz des Toten realisiert haben: durch Gottesnaehe. Die Texte binden den Verstorbenen in die Goetterwelt ein. Geheimnis bedeutet Gottesnaehe als Schutz vor Zerfall und Verwesung. Sie laden den Leichnam mit Heiligkeit und Goettlichkeit auf, ebenso wie die Balsamierung und Mumifizierung ihn mit unvergaenglichen Substanzen impraegniert hat. Die schuetzende Gottesnaehe hat ihren Ort in der hermetisch abgeschlossenen, unbetretbaren Sargkammer.
Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt waehrend des Neuen Reichs laesst sich die Geschichte des aegyptischen Monumentalgrabs beschreiben als die Geschichte der Entfaltung des kultischen Aspekts. Um die Mitte des Neuen Reichs aber, im unmittelbaren Umkreis der Amarna-Revolution, tritt etwas Neues hinzu und veraendert sowohl das architektonische Layout wie auch das Dekorationsprogramm des Grabs. Was wir im Lauf der Jahre gelernt haben ist, dass die entscheidende Wende in der Sakralisierung des Grabs nicht vom Aspekt des Kults, sondern von dem des Geheimnisses ausgeht. Die Schnittstelle oder Kontaktzone zwischen den Sphaeren des Kults und des Geheimnisses verdoppelt sich. Das Heilige, das bislang allein im Grab im Sinne der Abgrenzung und der Kontaktzone zur Erscheinung kam und es zu einem heiligen Ort machte, war die Heiligkeit der Totenwelt und des Jenseits. Der raeumlich, zeitlich und rituell gerahmte und geformte Kontakt verbindet Menschenwelt und Totenwelt, Diesseits und Jenseits. Jetzt kommt eine zweite Kontaktzone oder Schnittstelle hinzu, naemlich die zwischen Totenwelt und Goetterwelt. Die eine Schwelle oder Schnittstelle verbindet den Toten mit der Menschenwelt und ermoeglicht ihm eine dauernde kultische Versorgung sowie eine Fortdauer im sozialen Gedaechtnis. Beides geht bis auf die Anfaenge der aegyptischen Grabarchitektur zurueck und gehoert zum Grundgedanken des aegyptischen Grabs. Die andere Schnittstelle verbindet den Toten mit der Goetterwelt und vermittelt ihm eine dauernde Einbezogenheit in goetterweltliche Konstellationen sowie Unsterblichkeit als Gott unter Goettern. Diese Idee hat ganz andere Urspruenge.
Vor dem Neuen Reich wurden Goetter im Privatgrab ueberhaupt nicht dargestellt. Vor der Amarnazeit treten nur die Goetter des Totenreichs - Osiris, Anubis und die Westgoettin - in Szenen der Verehrung durch den Toten auf. Dazu kamen Szenen der Sonnenanbetung, die aber immer nur den Beter, nie den angebeteten Gott darstellten. Die Anbetung galt dem im Licht leibhaftig gegenwaertigen und daher keiner Darstellung beduerftigen Gott. Nach der Amarnazeit beherrschen Szenen der Verehrung von Gottheiten durch den Grabherrn das gesamte Dekorationsprogramm. Dabei werden sie typischerweise so angeordnet, dass in zwei uebereinanderliegenden Bildstreifen oben Szenen der Goetterverehrung und unten Szenen des Totenkults stehen. Dadurch wird das Grab zu einem heiligen Ort anderer Struktur. Es geht jetzt nicht mehr nur um die Heiligkeit des verklaerten, rituell vergoettlichten Toten, der im Geheimnis der Sargkammer ruht und zu dem der Kult einen Kontakt herstellt. Dazu kommt die Heiligkeit der Goetter, mit denen der Tote seinerseits in Kontakt tritt. Den malt man sich nach dem Modell des Kults aus: der Tote tritt als Offiziant vor die Goetter, die seine Opfer ebenso entgegennehmen wie er selbst die Opfer seines Totenpriesters. Damit wird das Grab zu einer doppelten Kontaktzone: einerseits zwischen Menschenwelt und Totenwelt, andererseits zwischen Totenwelt und Goetterwelt. Der Tote tritt den Goettern gegenueber in der Rolle eines Priesters, also des irdischen Tempeldieners. Das Grab wird in seinen zugaenglichen Teilen ausgedeutet als eine Art fiktiver Tempel, in dem der Tote in der Rolle eines Priesters den Goettern dient. Das geht so weit, dass in einer ganzen Reihe von Graebern sogar die Statuen des Grabherrn und seiner Angehoerigen in der hinteren Kapelle ersetzt werden durch Goetterbilder des Osiris, der Isis und des Horus.
Dieses nach aussen gestuelpte Geheimnis, die "mystische" Heiligkeit des Grabs, die eine fortdauernde Gottesnaehe vermittelt, bildet nun den dominierenden Aspekt des Grabs. Sie beherrscht den Aspekt "Gedaechtnis" und verdraengt die Szenen und Texte der biographischen Repraesentation. Sie beherrscht aber auch den Aspekt "Kult", indem sie den Totenkult gewissermassen sakramental ueberformt. Im Kult kommunizieren nicht nur Totenpriester und Verstorbener, sondern auch Verstorbener und verschiedene Gottheiten. Der Kult, der dieses Doppelspiel ermoeglicht, ist das Fest. Wenn wir uns die Totenopferszenen genau betrachten, stellen wir fest, dass hier meist bestimmte Festopfer dargestellt sind: Fackeln zum Neujahrsfest, Zwiebeln zum Sokarfest und Bastetfest, ein Gastmahl zum Talfest. Solche Festopfer sind es, die nicht nur die Lebenden mit den Toten, sondern auch die Toten mit den Goettern in Kontakt bringen. Daher werden sie auf der Wand so dargestellt, dass im unteren Bildstreifen sichtbar ist, was zwischen Lebenden und Toten, und im oberen, was zwischen Toten und Goettern stattfindet.
Ich glaube nicht, dass wir es hier einfach mit einem Themenwandel der Grabdekoration zu tun haben. Dahinter steht ein Wandel des Totenkults. Das Grab wird nun viel staerker in bestimmte Festbraeuche und Prozessionen einbezogen. Talfest, Sokarfest, Neujahrsfest und Bastetfest treten neben die alten Totenfeste und bestimmen das Kultgeschehen im Grab. Die neue Form des Totenkults, die in der Begegnung von Lebenden und Toten zugleich auch die Begegnung mit im Fest erscheinenden Gottheiten zelebriert, veraendert auch den Grundriss des Grabs. An die Stelle des senkrechten Schachts, der die Sphaeren des Geheimnisses und des Kults mehr trennte als verband, tritt nun ein bequem begehbarer, gewundener Treppengang. Meines Erachtens kann der Sinn dieser Ersetzung nur darin bestehen, dass der Gang auch wirklich regelmaessig betreten wurde, und das ist nur in Verbindung mit Totenfesten vorstellbar.
Im Grab des Gottesvaters Neferhotep aus der Nachamarnazeit ist ein Festkalender dargestellt. Zweimal im Jahr wird eine "Kornmumie" fuer acht Tage angesetzt. Dazu werden Totenliturgien rezitiert, die ihren eigentlichen Ort im Balsamierungsritual haben. Es wird eine Nachtwache zelebriert, die sonst zum Abschluss der Einbalsamierung in der Nacht vor der Beisetzung stattfindet. Der eine Anlass ist das Sokarfest um die Zeit der Wintersonnenwende, der andere das Neujahrsfest um die Zeit der Sommersonnenwende. Wir wissen nichts naeheres ueber den Festverlauf. Aber man kann sich einiges vorstellen. Da ein Kornosiris Licht braucht, um zu spriessen, muss man davon ausgehen, dass er im Lichthof angesetzt wird. Nach Ablauf der acht Tage wird die Nachtwache zelebriert und anschliessend die Kornmumie beigesetzt. Dieser naechtliche Ritus fand vermutlich im Inneren des Grabs statt. Die abschliessende Bestattungsprozession fuehrte durch den gewundenen Abstieg bis in die Naehe der Sargkammer.
Der Gedanke der rituell hergestellten und im Fest inszenierten Gottesnaehe erfordert einerseits eine staerkere Differenzierung der Heiligkeit, wie sie das Grab raeumlich realisiert, und setzt andererseits die urspruengliche Trennung der Sphaeren - Geheimnis, Kult und Gedaechtnis - zueinander in engere Beziehung. Der Hof dient der Vereinigung mit dem Sonnenlicht, die Pyramide der Einbindung des Grabs in den Sonnenlauf, der gewundene Abstieg bildet mit den unterirdischen Kammern eine Krypta fuer das festliche Ritual der Kornmumie, und die Sargkammer birgt nach wie vor das Geheimnis des in den Schutz der Goetterwelt aufgenommenen Leichnams. So dient jetzt die gesamte Grabanlage in ihren Oberbauten und Aussenanlagen, ihren dekorierten Innenraeumen und ihren Abstiegen zur Sargkammer der Symbolisierung von Gottesnaehe, also einer Heiligkeit, die urspruenglich in Sarg und Sargkammer hermetisch eingeschlossen war und nun die Architektur und Dekoration der Gesamtanlage als die eines heiligen Orts bestimmt.
Autor:
Prof. Dr. Jan Assmann
Aegyptologisches Institut,
Marstallhof 4, 69117 Heidelberg,
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