Modellierung komplexer Welten
Computer und neue Rechenverfahren tragen wesentlich zum Fortschritt der Bio- und Umweltwissenschaften sowie deren technischer Anwendung bei. Sie erlauben es nicht nur, riesige Datenmengen zu erfassen und zu verarbeiten, sondern auch mathematische Modelle zu berechnen, welche die auftretenden physikalischen, chemischen und biologischen Prozesse beschreiben. Am Interdisziplinären Zentrum für Wissenschaftliches Rechnen (IWR) befassen sich Forschergruppen mit der Modellierung und der Analyse komplexer Modellgleichungen sowie mit der Entwicklung von Rechenverfahren und der Simulation von biologischen Systemen und umweltrelevanten Prozessen. Willi Jäger und Gabriel Wittum berichten von den laufenden Forschungsarbeiten.
Prozesse in biologischen Systemen und in der Umwelt sind in der Regel komplex, ebenso ihre mathematischen Modelle. Die Modellgleichungen sind meist nichtlineare, hochdimensionale dynamische Systeme, welche die zeitlich-räumliche Entwicklung und die Wechselwirkungen in den realen Systemen beschreiben. Trotz dieser Komplexität haben Modellbildung und Simulation sich wie in der Physik und Chemie als nützlich und notwendig erwiesen, um etwa die Vorgänge in einer Zelle, die Wechselwirkungen zwischen Zellen, die Kodierung und Regelung von biologischen Abläufen aufzuklären. Ebenso nützlich sind sie, um die Entwicklung von biologischen Strukturen und Systemen, die Wirkungsweise von Organen, das Wachsen und Sterben, das Wechselwirken von biologischen Populationen und die Dynamik komplexer ökologischer Systeme zu erfassen. Mit Methoden der mathematischen Modellierung gelingt es, experimentelle Beobachtungen in eine konsistente Theorie einzubauen und sie für Prognosen, Planung, Optimierung und Steuerung von Prozessen zu nutzen.
Computer sind inzwischen zu Experimentiergeräten geworden, in denen Moleküle miteinander reagieren oder virtuelle Organismen wie in einem Fermenter wachsen. Sie simulieren Ökosysteme, in denen Spezies überleben oder aussterben; sie ermitteln die CO2-Entwicklung in der Atmosphäre und die Wirkung von Schadstoffen im Boden. Mathematische Methoden werden eingesetzt, um Sequenzen von Genen zu analysieren und miteinander zu vergleichen – eine Aufgabe, die wegen der zu lösenden Optimierungsprobleme größte Anforderungen an Rechnerleistung und Rechenverfahren stellt. Um die Funktion von Genen und ihre Rolle zum Beispiel bei der Entwicklung biologischer Strukturen aufzuklären, reicht es nicht, mit umfangreichen Datenanalysen eine Ursache-Wirkung-Korrelation – etwa die Wechselwirkung von einer Genabweichung und einer Krankheit – statistisch herzustellen. Es ist vielmehr notwendig, die biophysikalischen-biochemischen Prozesse zu erfassen, die Wirkung eines Biomoleküls oder die chemische Aktion eines Enzyms zu verstehen, um Verbindungen zu entwerfen, die vorgegebene Eigenschaften haben.
Die Modellierung erfaßt die Wechselwirkung der Atome einer Molekülkette untereinander und mit dem umgebenden Medium. Mit Modellierung und Simulation können nicht nur Einblicke in die mikroskopischen Bausteine und Vorgänge des Lebens oder in die Zusammenhänge komplexer biologischer Systeme erzielt, sondern auch schwierige Aufgabenstellungen in der Bio-, Medizin- und Umwelttechnik bewältigt werden. Die Forschergruppen am IWR entwickeln passende Modelle, Lösungsverfahren und Softwarewerkzeuge.
Mathematische Methoden zeichnen sich durch "Portabilität" aus, das heißt, sie sind strukturbedingt und unabhängig von der speziellen Anwendung. Die Modellierung biologischer Populationen und Prozesse folgt den Ideen und den Schemata, die bei Molekülen und bei physikalisch-chemischen Prozessen erfolgreich eingesetzt werden. Gleichungen für die Ausbreitung von Krankheitserregern führen mathematisch zu denselben Fragestellungen, wie sie bei chemischen Reaktoren zu lösen sind.
Um die Wechselwirkung von Mikroorganismen untereinander und mit der Umwelt zu studieren, betrachtet man sie in einem kontrollierten biologischen Reaktor, in einem Chemostat. Zur Analyse biologischen Wachstums in variabler Umwelt bietet sich eine Kolonne von Chemostaten, ein Gradostat, an. Modelle für biologische Prozesse in diesem Apparat haben die gleiche Gestalt wie eine durch Pumpen verbundene Kolonne von chemischen Reaktoren. Im Wechselspiel zwischen Modellierung, Simulation und Experiment wurde das Wachstum von Mikroorganismen in chemischen Gradienten untersucht. Insbesondere wurde die Frage studiert, unter welchen Bedingungen unterschiedliche Arten in einer solchen Umwelt koexistieren.
Organismen können in einer variablen Umwelt in verschiedenen Phasen vorkommen. Sie passen ihren Stoffwechsel der Umwelt an, sie verändern ihr Wachstumsverhalten. So können Bakterienkulturen in Gradienten chemischer Substanzen Wachstumsmuster ausbilden, die sehr spezifisch sind und sensitiv von den Stoffkonzentrationen abhängen. Die Konzentration von Bakterien, die in einem radialen Gradienten einer chemischen Substanz wachsen, zeigt im Experiment Wachstumsringe, die in der Simulation reproduziert werden. Das Wachstumsverhalten kann auch als Bioindikator für Schadstoffe dienen. Ein bekanntes Beispiel ist der Ames-Test, der angewandt wird, um krebserregende Substanzen zu identifizieren. Mit dem Rechner gelingt es, die kritische Dosis eines Schadstoffes aus den beobachteten Wachstumsmustern zu bestimmen.
Simulation mikroökologischer Systeme
Die mathematische Modellierung und die Computersimulation solcher "mikroökologischer" Systeme von Organismen sind sowohl von theoretischem als auch von praktischem Interesse. Um Bioreaktoren zu beherrschen, ist es notwendig, die ablaufenden biochemischen Prozesse der beteiligten Mikroorganismen zu verstehen und zu kontrollieren. Biologische Populationen werden inzwischen in der chemischen beziehungsweise pharmazeutischen Produktion, in der Schädlingsbekämpfung oder zur Entsorgung von Schadstoffen eingesetzt. Die Modellierung und Simulation der dabei ablaufenden Prozesse ist für die Planung und die Kontrolle der Verfahren ein wichtiges Hilfsmittel. Sie erfordern das volle Methodenspektrum des Wissenschaftlichen Rechnens.
Dies wird im Folgenden am Beispiel der biologischen Reinigung von Schadstoffen im Boden aufgewiesen. Die Untersuchung dieses biotechnologischen Verfahrens wird am IWR in Kooperation mit der Firma IBL Umwelt- und Biotechnik, Heidelberg, bearbeitet. Sie verwendet die Daten eines Schadensfalls im Bereich Sandhausen, wo Chemikalien aus einer Fabrik ins Grundwasser gelangten. Bodenbakterien sind fähig, in einer Reaktionskette Chlorkohlenwasserstoffe abzubauen. Dabei wechseln sich anaerobe und aerobe Reaktionsschritte ab, das heißt, der Sauerstoffgehalt des Bodens beeinflußt den Abbau. Die tiefenabhängige Struktur der Schadstoffahne, die bei Bohrungen beobachtet wurde, läßt sich in einem Modell durch Simulation auf das anaerobe und aerobe Wachstum von Organismen im Sauerstoffgradienten zurückführen. Für die Planung und gesteuerte Durchführung einer biotechnologischen Bodensanierung werden Grundwasserströmung, Stofftransport, Reaktion mit dem Boden und den Mikroorganismen gekoppelt und in einem Modell zusammengefaßt. Das Modell wird den realen Daten angepaßt und simuliert. Hierzu werden Software-werkzeuge entwickelt. Der Prozeß ist so zu kontrollieren, daß der Abbau der Schadstoffe durch die Bakterien optimiert wird. Durch die Simulation und die Optimierung können die Zahl und die Position der erforderlichen Bohrungen und Pumpen sowie die Zufuhr von Aktivatoren für das biologische Wachstum bestimmt werden, um optimale Bedingungen für die Sanierung zu schaffen. Bereits bei der Planung von Maßnahmen ist es notwendig, Erfolgsaussichten sowie die entstehenden Kosten abzuschätzen. Der Industriepartner erwartet Simulationswerkzeuge, die er allgemein für seine Sanierungsprojekte einsetzen kann.
Die Zusammensetzung von Böden ist offensichtlich sehr heterogen. In konkreten Fällen ist ihre Datenlage schlecht. Böden sind "zufällige" Medien. Prozesse in derart komplexen porösen Medien mit nur stochastisch beschreibbaren geometrischen und physikalisch-chemischen Eigenschaften erfordern neue Methoden. Wir sind darauf angewiesen, solche Medien mit "effektiven" Eigenschaften zu beschreiben und stochastische Effekte auch bei der Simulation einzuführen. Weitere Beispiele sind biologische Gewebe und technische Materialien. Die Sichtbarmachung der äußersten Schicht der Haut mit Hilfe eines bildgebenden Verfahrens (Computertomographie) gleicht graphisch dem Schnitt durch eine Bodenschicht. Es ist daher zu erwarten, daß Stoffflüsse durch Gewebe mit ähnlichen Methoden modelliert und simuliert werden können. In der Heidelberger Forschergruppe ist über Jahre Know-how entwickelt worden, solche Systeme unterschiedlicher Skalen zu analysieren und numerisch zu bearbeiten. Die Fachbezeichnungen "Homogenisierung" und "Mehrgitterverfahren" geben grob einen Hinweis auf das Vorgehen. Durch geeignete Mittelung verschafft man sich makroskopische Beschreibungen, die das Verhalten bis auf kontrollierbare und akzeptierbare Fehler annähern. Numerische Verfahren stützen sich auf Rechengitter in Raum und Zeit, mit denen Strukturen unterschiedlicher Skalen berechnet werden. Es leuchtet ein, daß man Skalen in einem System durch passendes Aufsplitten in Teilaufgaben auf Gittern entsprechender Skalen berücksichtigt.
Es erfordert sehr leistungsfähige Verfahren, die Strömung durch ein stochastisch erzeugtes poröses Medium, wie es der auf Seite 39 rechts oben abgebildete Würfel zeigt, durch Lösung stark nichtlinearer partieller Differentialgleichungen zu berechnen. In diesen Würfel strömt von der Basis Wasser wie in einem ungesättigten Boden. Das Ergebnis ist unmittelbar nach dem Beginn des Vorgangs in einer dreidimensionalen Darstellung des Wassergehaltes gezeigt (steigend von blau nach rot).
Die Heterogenität des Bodens führt bei der Strömung mehrerer Phasen (zum Beispiel von Wasser und Lösungsmittel) zu Effekten, für deren Kontrolle Computersimulationen notwendig sind. Böden bestehen häufig aus Schichten stark unterschiedlicher Beschaffenheit. Es können, wie im Bild auf Seite 40 links gezeigt, Linsen feinkörnigen Sandes (im Bild rot) in einer grobkörnigen Umgebung eingelagert sein. Bedingt durch die nichtlineare Kopplung der Phasen und den Materialsprung geschieht es, daß zum Beispiel das Lösungsmittel (im Bild grün) überhaupt nicht in die Linsen eindringt, weil der nötige Druck dazu nicht ausreicht, und teilweise sogar entgegengesetzt zur Strömungsrichtung des Wassers (im Bild von rechts) fließt. Die in der Simulation erzielten Ergebnisse spiegeln die Phänomene wider, die im Feld beobachtet und in Experimenten bestätigt werden. Der Abbau eines Schadstoffes in einem porösen Medium durch eine in der Strömung transportierte chemische Substanz wurde am Rechner simuliert und mit einem Verfahren visualisiert, das eigens für die dreidimensionale Darstellung von Strömungen entwickelt wurde. Räumliche Dichten werden in optische Eigenschaften übersetzt und durch Verfolgen von Lichtstrahlen in dem so erzeugten optischen Medium sichtbar gemacht. Für die Untersuchung mehrdimensionaler Prozesse ist die Visualisierung von gemessenen oder berechneten Datensätzen ein wichtiges Mittel zur Information geworden.
Es ist ein aktueller Forschungsschwerpunkt am IWR, die Dynamik räumlich dreidimensionaler Mehrphasenströmungen mit chemischen oder biologischen Reaktionen zu modellieren und zu berechnen. Wichtige Fortschritte sind bereits erzielt worden. Das Softwaresystem UG, das die Forschergruppe Wissenschaftliches Rechnen und Technische Simulation entwickelte, enthält Werkzeuge für die Berechnung solcher Mehrphasenströmungen. UG ist in vielen Aufgabenbereichen einsetzbar und enthält die neuesten, mathematisch begründeten Verfahren insbesondere zur Lösung komplexer Systeme, vor allem nichtlinearer partieller Differentialgleichungen. Wegen hoher Anforderungen an die Rechenleistung setzt es parallele Verfahren und den einzelnen Rechenschritten angepaßte Rechengitter (unstrukturierte Gitter) ein.
Modellierung physiologischer Vorgänge
Membranen, Filter, Papier, biologisches oder textiles Gewebe, Knochen, poröse Katalysatoren liefern eine Matrix für Prozesse, die mit entsprechenden Methoden bearbeitet werden können. Die Modellierung physiologischer Vorgänge etwa in der Haut sind für pharmazeutische, medizinische oder kosmetische Anwendungen von Bedeutung. Das Eindringen von Substanzen durch die Haut wurde für den Fall regelmäßiger Gewebestrukturen simuliert. Die Simulation einer reinen Diffusion ohne Wechselwirkung mit den Zellen zeigt den Effekt der unterschiedlichen Durchlässigkeit der Wände und des Inneren der Zellen sowie des interzellulären Raums. Die nötigen numerischen Verfahren sind entwickelt, den Transport von Substanzen mit chemischen Reaktionen zu koppeln.
Die physiologischen Prozesse in Zellen, in Geweben und Knochen, in Organen, die Stoffflüsse, die Strömung des Blutes im Kreislauf und die Informationsverarbeitung in Nervennetzen in mathematische Relationen und Gleichungen zu fassen, ist ein entscheidender Schritt, der die Aufgabenstellung auf die Entwicklung von Rechenverfahren und die Anpassung an reale Daten reduziert. Die chemischen Reaktionen in einem Teststreifen, mit dem eine Krankheit diagnostiziert werden soll, lassen sich vergleichsweise einfacher modellieren als die Reaktionen in lebenden Geweben.
Diagnostische Papierstreifen wurden von der Forschergruppe für die pharmazeutische Industrie simuliert, um die Testreaktionen und damit die Diagnosen besser zu quantifizieren. Die medizinische Technik wird in Zukunft Computersimulationen verstärkt als Instrument einsetzen, um die Diagnostik zu verbessern, die Wirkung von therapeutischen Maßnahmen zu erfassen und Eingriffe zu planen. Noch ist ein Berg von Forschungsarbeit abzutragen, um beispielsweise die Druckverteilungen und die Volumenvergrößerung eines durch einen Infarkt geschädigten Gehirns zu berechnen, das Setzen einer Herzklappe optimal am Rechner zu planen oder die Langzeitwirkung eines Implantates auf Knochen und Gewebe abzuschätzen.
Modelle erfassen immer nur Teilaspekte der ablaufenden Prozesse und auch diese nur annähernd. Dies gilt insbesondere für biologische Systeme und Vorgänge in der Umwelt. Die Erfahrung zeigt jedoch, daß sich Komplexität in Abhängigkeit von den jeweiligen Fragestellungen auf wesentliche Abläufe reduzieren läßt. Computersimulationen dienen dazu, die entscheidenden Faktoren zu bestimmen.
Was sind in einem riesigen Netzwerk von chemischen Reaktionen die für die Produktion einer Substanz wesentlichen Anteile? Was sind die entscheidenden Größen für das Überleben oder Aussterben einer Art in einem ökologischen System? Welche Größen bestimmen die Stabilität eines Wachstumsprozesses, welche Änderungen führen zur Ausbildung von Strukturen? Computersimulationen helfen festzustellen, wie ein System auf die Änderungen von Systemdaten antwortet. Mit ihnen gelingt es, Kontrollen zu berechnen und Prozesse zu steuern. Daß dies in den anscheinend unterschiedlichsten Situationen mit vergleichbaren Methoden möglich ist, liegt an der vergleichbaren Struktur ihrer mathematischen Modelle.
Die Forschung in diesem Bereich wird am IWR gefördert durch die Deutschen Forschungsgemeinschaft (insbesondere durch den Sonderforschungsbereich "Reaktive Strömungen, Diffusion und Transport"), das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie im Programm "Mathematik in der Industrie" sowie durch direkte Industriekooperationen. Die Forschung läuft am IWR fächerübergreifend und bezieht insbesondere Experiment und Beobachtungsdaten ein. Das IWR trägt zur Ausbildung qualifizierten Nachwuchses für die Bio- und Umwelttechnologie bei, in denen computergestützte Methoden unverzichtbar geworden sind.
Autoren:
Prof. Dr. Willi Jäger und Prof. Dr. Gabriel Wittum,
Interdisziplinäres Zentrum für Wissenschaftliches Rechnen (IWR),
Universität Heidelberg, Im Neuenheimer Feld 368, 69120 Heidelberg,
Telefon (0 62 21) 54 57 80