Siegel der Universität Heidelberg
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Sehendes Silizium – Hoffnung für Blinde

Erste Vorschläge für den Ersatz des Sinnesorgans Auge durch Selen-Photozellen stammen bereits aus dem Jahr 1948. Schon damals überlegten die Wissenschaftler, ob die für das Sehen zuständigen Areale des Gehirns nicht auch von anderen Sinnesorganen, etwa dem Tastsinn, angesprochen werden könnten. Mittlerweile ist es den Forschern tatsächlich gelungen, ein "elektronisches Auge" zu schaffen, das über die Komponenten Bildaufnahme, Bildverarbeitung und taktile Ausgabe verfügt. Das mikrosensorische Ersatzsystem für das menschliche Auge wurde kürzlich in der Praxis erprobt. Karlheinz Meier vom Institut für Hochenergiephysik schildert den Stand einer hoffnungsvollen Entwicklung, welche die Lebensqualität blinder Menschen erheblich verbessern könnte.

Der amerikanische Mathematiker Norbert Wiener hat bereits im Jahr 1948 in seinem visionären Werk Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine konkrete Vorschläge für den Ersatz des Sinnesorgans Auge durch Selen-Photozellen und eine daran anschließende akustische Ausgabe der entsprechend aufbereiteten Bildinformation gemacht. Von besonderer Bedeutung ist sein Gedanke (siehe Kasten links), daß die Assoziationsgebiete des Gehirns auch von anderen Sinnesorganen angesprochen werden können, als dies normalerweise der Fall ist.

Dieser Weg ist damit grundsätzlich verschieden von Implantationsprojekten, die derzeit für das auditive System bereits angewendet und für das visuelle System vorbereitet werden. Der in dem Buch von Wiener sehr detailliert beschriebene technische Aufbau ist allerdings niemals realisiert worden und hätte mit der 1948 verfügbaren Technik wohl auch kaum zum Erfolg geführt. Mit der breiten Anwendung der Fernsehtechnik etwa 20 Jahre später standen Kameras für die Aufnahme von Bildern zur Verfügung. Der amerikanische Neurologe Paul Bach-y-Rita führte 1968 gemeinsam mit dem blinden Arzt Carter C. Collins am Smith-Kettlewell Eye Research Institute in San Francisco erste Versuche mit sogenannten taktilen Sehersatzsystemen durch. Die Bildinformation aus einer Fernsehkamera gelangte über eine Matrix aus elektromagnetisch betriebenen Stempeln auf die Hautoberfläche der blinden Probanden und löste dort einen taktilen (Tast)reiz aus. Dieses Pionierexperiment realisierte erstmals die drei wesentlichen Komponenten für ein solches Sehersatzsystem: Bild- aufnahme – Bildverarbeitung – taktile Ausgabe. Den grundsätzlich positiven Erfahrungen standen jedoch noch immer Beschränkungen durch die verfügbare Technologie entgegen. Alle Bestandteile waren unhandlich und die erforderliche Vorverarbeitung der Bildinformation mit den damaligen Computern ineffizient und nicht in Echtzeit durchführbar.

Erstes Sehersatzsystem

Im Jahr 1994 begann eine Gruppe von Physikern an der Heidelberger Fakultät für Physik und Astronomie gemeinsam mit der Sektion für Ophthalmologische Rehabilitation der Augenklinik das Projekt "Elektronisches Sehen". Die Physikergruppe stammt aus dem Umfeld des Labors für Mikroelektronik, das als gemeinsame Gründung einiger Heidelberger Physikinstitute entstand und in den Räumen des stillgelegten Großrechners am Institut für Hochenergiephysik in der Schröderstraße angesiedelt ist. Ursprünglich gegründet mit dem Ziel, hochintegrierte Mikrochips zur Anwendung in Großexperimenten der Elementarteilchenphysik zu entwickeln, stellt dieses Labor seine Infrastruktur auch einer ganzen Reihe anwendungsorientierter Projekte zur Verfügung. Das Land Baden-Württemberg fördert seit 1994 ein Projekt mit dem Namen "Anwendung von Mikroelektronik in Naturwissenschaften und Medizin", in dem unter anderem auch das "Elektronische Auge" entwickelt wird.

Die entscheidenden Fortschritte des neuen Ansatzes der Heidelberger Gruppe gegenüber den ersten praktischen Versuchen aus den sechziger Jahren liegen auf zwei Gebieten: Zum einen erlaubt es die Siliziumtechnologie, Kameras zu entwickeln, in denen viele tausend lichtempfindlicher Sensoren mit einer für die jeweilige Aufgabenstellung optimierten Elektronik auf einem Chip integriert werden. Solche Vision-Chips sind wegen ihrer Kompaktheit und geringen elektrischen Leistungsaufnahme ideal als Bildaufnahmesysteme für das Projekt geeignet. Zum anderen lassen sich in derselben Siliziumtechnologie Bildverarbeitungschips bauen, deren Leistungsfähigkeit die konventioneller Computer für die hier zu bearbeitende Aufgabe bei weitem übertrifft. Die Heidelberger Arbeitsgruppe verfügt nach dreijähriger Entwicklungszeit heute über einen für dieses Projekt entwickelten Vision-Chip, der etwa 110 000 lichtempfindliche Sensoren auf einer fingernagelgroßen Siliziumfläche integriert. Das physikalische Prinzip hinter diesen Sensoren ist dasselbe wie beim Empfänger einer Infrarotfernbedienung. Elektrische Ladungen werden durch einfallendes Licht im Silizium beweglich gemacht und von einer elektrischen Spannung abgesaugt. Durch ein spezielles analoges Kompressionsverfahren kann der Heidelberger Vision-Chip Bilder unter sehr verschiedenen Beleuchtungsbedingungen registrieren. Ähnlich wie die Rezeptoren des menschlichen Auges ist sein Ansprechvermögen nicht linear, sondern logarithmisch: Bilder können sowohl in dunklen Räumen als auch bei strahlendem Sonnenschein aufgezeichnet werden, ohne daß eine komplizierte mechanische oder elektronische Belichtungssteuerung erforderlich wäre.

EDDA-Chip

Ein notorisches Problem solcher Vision-Chips sind üblicherweise starke Inhomogenitäten im Ansprechvermögen einzelner Sensoren. Sie können im Extremfall zur völligen Unkenntlichmachung des Bildes führen. Das Herstellungsverfahren der Halbleiterfirma mit einer Vielzahl kritischer Prozeßschritte bringt diesen sehr unerwünschten Effekt mit sich. Kommerziell verfügbare Systeme verwenden teilweise aufwendige Softwareverfahren, um die Homogenität der Bilder zu gewährleisten. Ein eigens entwickelter elektronischer, analoger Korrekturmechanismus ist auf dem Heidelberger Vision- Chip bereits integriert und reduziert diese Schwierigkeit auf ein unproblematisches Niveau. Verschiedene Möglichkeiten der Datenausgabe an die Außenwelt sind auf dem Chip vorgesehen, so daß außer einem kleinen Gehäuse und einer abbildenden Optik keine zusätzlichen Komponenten erforderlich sind. Es handelt sich also um eine "Single Chip Camera".

Die vom Vision-Chip für ein Bild gelieferte Datenmenge entspricht in digitalisierter Form etwa einer Million Bits. Die dem Tastsinn zumutbare Menge an Information muß daher in mehreren Schritten um mehrere Größenordnungen reduziert werden, bevor sie einem taktilen Ausgabegerät zugeführt werden kann.

In einem ersten Schritt erfolgt die dazu erforderliche Verarbeitung der Bildinformation mit einem speziell für diese Anwendung entwickelten analogen Bildverarbeitungschip. Das gewählte Konzept erinnert stark an die Architektur der Netzhaut des menschlichen Auges und folgt in gewisser Weise diesem biologischen Vorbild. Die Reduktion der Bildinformation auf abrupte Sprünge in der Helligkeitsverteilung (sogenannte Kanten) wird mit Hilfe eines komplexen elektronischen, analogen Netzwerkes durchgeführt, das auf einem Siliziumchip aufgebaut wurde. Der in der Heidelberger Gruppe gebaute Chip trägt den Namen EDDA (für Edge Detection Array).

Analyse eines Bildausschnitts

Obwohl sich solche Kantenberechnungen im Prinzip auch auf konventionellen digitalen Rechnern durchführen lassen, bietet der gewählte analoge Ansatz doch große Vorteile. So liegt der Energieverbrauch für die Analyse eines Bildausschnittes aus 66 mal 66 Punkten bei unvorstellbar geringen 200 Milliardstel Kalorien. Im Idealfall könnte man bei einer Bildrate von 24 Bildern pro Sekunde diesen Teil des Systems zwölf Jahre lang aus einer einzigen konventionellen Batterie betreiben – für ein portables System sicher ein unschätzbarer Vorteil.

Gewissermaßen als Nebenprodukt erfolgt die Bildverarbeitung mit extrem hoher Geschwindigkeit. Der erwähnte 66 mal 66 Punkte große Bildausschnitt wird in nur zwei Millionstel Sekunden vollständig analysiert. Eine halbe Million solcher Ausschnitte könnte also in einer Sekunde bearbeitet werden, wenn die Bilddaten nur schnell genug bereitgestellt werden. Diese enorme Schnelligkeit ist für die Anwendung in einem Sehersatzsystem nicht erforderlich, so daß die analogen Bilddaten aus dem Vision-Chip über eine einzige Leitung quasi im Gänsemarsch in den EDDA-Chip eingespeist werden. Ein solches Verfahren bezeichnet man als Multiplexing. Für das zunächst angestrebte Blindenhilfssystem wird die Bildinformation anschließend mit digitaler Hardware, die derzeit entwickelt wird, weiter aufbereitet.

Zukünftig könnten sich aber auch attraktive Anwendungen eines solchen Bildverarbeitungschips in der Robotik ergeben, die auf eine sehr schnelle Bildanalyse angewiesen ist. Hier wäre es sogar denkbar, die lichtempfindlichen Rezeptoren mit dem Netzwerk zu integrieren, so daß ein nahezu vollständiges Modell der Netzhaut entstünde. Die Daten der Rezeptoren würden dann parallel in die entsprechenden Kreuzungspunkte des Netzwerkes eingespeist und die hohe Auswertegeschwindigkeit wäre vollständig nutzbar.

Nach der Aufnahme des Bildes durch den Vision- Chip und die anschließende Bildverarbeitung soll die Information an den Tastsinn ausgegeben werden. Erstaunlicherweise gibt es zu diesem Zweck bisher kaum praktisch nutzbare Geräte. Die Heidelberger Arbeitsgruppe hat sich daraufhin entschlossen, auch hier eine eigene Entwicklung zu wagen. Aufbauend auf kommerziell erhältlichen piezoelektrisch betriebenen Aktuatoren – sie dienen eigentlich zur programmierbaren Ausgabe der von Louis Braille entwickelten Blindenschrift – wurde ein "Virtuelles Taktiles Display" entwickelt, gebaut und im praktischen Einsatz erprobt. Kurz gesagt handelt es sich hierbei um ein relativ kleines Feld aus 48 Tastpunkten für die Finger. Über ein Schlittensystem kann es über eine größere Fläche verschoben werden, die etwa einer handelsüblichen Unterlage für eine Computermaus entspricht. Die 48 Tastpunkte zeigen dann immer den Ausschnitt an, der der aktuellen Position der Finger auf der Fläche entspricht. Das vollständige Muster ist jedoch virtuell immer präsent und kann vom Benutzer jederzeit abgerufen werden, indem er den Schlitten auf die gewünschte Position bewegt. Mit diesem Verfahren können abtastbare Muster auf die Fingerkuppe ausgegeben werden. ErprobungDas System hat eine erste Erprobung hinter sich. Mit Unterstützung blinder Schüler der Schloß-Schule in Ilvesheim wurden die Möglichkeiten taktiler Ausgabe über ein solches Gerät systematisch untersucht. Die Testmuster bestanden zunächst aus einfachen geometrischen Figuren, die den blinden Schülern dargeboten wurden. Zum Vergleich erfolgten Untersuchungen mit normal sehenden Personen. Das "Virtuelle Taktile Display" erlaubt es über einen angeschlossenen Computer auch, die Weg-Zeit-Koordinaten des Tastvorgangs aufzuzeichnen und anschließend auszuwerten, und damit die detaillierte Analyse von Erkennungsstrategien.

Die Resultate werden zur Zeit noch ausgewertet. Sie haben jedoch bereits interessante Erkenntnisse geliefert, die für die Konzeption der Bildverarbeitung des Gesamtsystems sehr wichtig sind. Grundsätzlich läßt sich sagen, daß die über den Tastsinn übertragbare Informationsmenge pro Zeiteinheit (Bandbreite) bei den blinden Probanden etwa doppelt so hoch war wie bei den sehenden. Die dabei angewandten Erkennungsstrategien waren sehr verschieden. Unerwartet positiv, wenn nicht gar enthusiastisch, war die Resonanz der Schüler auf dieses eigentlich nur für grundlegende Untersuchungen geplante Gerät.

Die grundsätzlichen Möglichkeiten taktiler Ausgabe sollen in naher Zukunft gemeinsam mit Physikern und Psychologen an der Université Louis Pasteur in Straßburg systematisch erforscht werden. Die Gruppe um die Entwicklungspsychologin Prof. Eliana Sempaio verfügt als Handwerkszeug über ein sogenanntes fMRI- (functional Magnetic Resonance Imaging) Gerät. Während mit der klassischen Kernspinresonanzabbildung (MRI) die räumliche Verteilung der Wasserstoffkerne in den Wassermolekülen biologischer Systeme abgebildet wird, erlaubt das funktionelle Verfahren (fMRI) eine orts- und zeitaufgelöste Messung des Sauerstoffgehaltes im Blutkreislauf des Gehirns, der wiederum eng mit einer neuronalen Aktivierung verbunden ist. Das Kernspinresonanzprinzip erfordert einen Aufenthalt des Probanden in einem sehr hohen magnetischen Feld von zwei Tesla. Dies entspricht dem 40 000fachen des Erdmagnetfeldes. Ein Einsatz des beschriebenen taktilen Displays ist unter diesen Bedingungen nicht möglich.

Die Heidelberger Arbeitsgruppe hat aus diesem Grund ein pneumatisches taktiles System entwickelt und in die Datennahme des fMRI integriert. Dieser Aufbau soll folgende Fragen beantworten: Welche räumliche und zeitliche Auflösung müssen die taktilen Stimulationen haben, um optimal erkannt zu werden? Welche Regionen des Körpers eignen sich am besten, um Informationen aus dem künstlichen Sehsystem einzuspeisen? Welche Bildvorverarbeitung muß auf dem EDDA-Chip erfolgen, damit die Übertragungsbandbreite des taktilen Systems nicht überfordert wird? Wie funktioniert das Erkennen von Mustern und Bewegungsvorgängen mit Hilfe des Tastsinns bei Blinden und Sehenden?

Erprobung

Die Resultate der gerade angelaufenen Messungen werden hilfreiche Erkenntnisse über die Grundlagen taktiler Sinneswahrnehmung liefern und direkte Auswirkungen auf die Entwicklung weiterer Bildverarbeitungs-chips und -strategien haben. Die Vision Norbert Wieners aus dem Jahr 1948 kommt also jetzt mit den Methoden moderner Physik, Elektronik und Informatik auf den Prüfstand der experimentellen Forschung.

Wo stehen wir heute mit dem Projekt "Elektronisches Auge"? Die drei wesentlichen Komponenten "Bildaufnahme – Bildverarbeitung – taktile Ausgabe" stehen in einer ersten Version zur Verfügung und sind zum Teil bereits in der Praxis erprobt. Die weitere Arbeit verspricht den Beteiligten zweierlei: Zum einen den direkten Einsatz der verfügbaren Komponenten zur Verbesserung der Lebensqualität blinder Menschen. Zum anderen gemeinsam von Physikern, Medizinern und Psychologen durchgeführte spannende Grundlagenforschung mit wahrhaft interdisziplinärem Charakter.

Autor:
Prof. Dr. Karlheinz Meier
Institut für Hochenergiephysik, Schröderstraße 90, 69120 Heidelberg,
Telefon ( 06221) 54 43 35, e-mail: meierk@ihep.uni-heidelberg.de

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