Notizbücher zum Ritual
Die Manuskriptsammlung der Forschungsstelle „Handschriften aus alevitischen Familienarchiven“ in der Abteilung Islamwissenschaft
Kurzbeschreibung:
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Neben den ersten beiden Zeilen des Gebets sind zudem einige Namen notiert, darunter auch die zweier Dichter von mystisch-religiöser Lyrik, denen unter Aleviten große Verehrung zuteil wird. Ob diese Namen als bloße Schreibübung hinzugefügt wurden oder in Verbindung zum Gebet stehen, ist nicht ersichtlich.
Mit den Handschriften aus alevitischen Familienarchiven beherbergt die Abteilung Islamwissenschaft am Seminar für Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients eine Sammlung, die als Glücksfall für die Wissenschaft gelten kann. Die rund 30 Manuskripte unterschiedlichen Formats und Umfangs geben Einblicke in die religiöse Tradition der Aleviten, einer Glaubensrichtung des Islam, die vor allem in Anatolien verbreitet ist. Das Amt des Geistlichen wird im Alevitentum innerhalb bestimmter Familien vererbt – und damit auch das religiöse Wissen. Seit dem 16. Jahrhundert wurden alevitische Gemeinschaften aus machtpolitischen, später verstärkt aus religiösen Gründen sozial ausgegrenzt und versuchten daher, ihre Tradition vor Außenstehenden zu bewahren. Die betraf insbesondere das gemeinsam von Frauen und Männern begangene Gemeinderitual „Cem“, in dem neben Gesängen auch der Ritualtanz „Semah“ praktiziert wird, sowie Schriftzeugnisse. Mitunter wird berichtet, Manuskripte seien aus Angst vor staatlichen Repressalien vernichtet worden. Die Handschriften der Heidelberger Sammlung sind in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlich: So sind schriftliche Zeugnisse generell eher selten, da die alevitische Tradition vor allem mündlich überliefert wird. Zudem ist bemerkenswert, dass den hiesigen Islamforschern im Jahr 2004 das Vertrauen entgegengebracht wurde, die Manuskripte als unbefristete Leihgabe zu beherbergen. Nicht zuletzt sind auch der Umfang und gute Zustand dieser seltenen Quellen hervorzuheben.
Foto: Janina Karolewski
Die Handschriften stammen aus dem Besitz der Geistlichenfamilien des Şah İbrahim Veli und des Dede Kargın aus dem anatolischen Dorf Bicir. Das älteste Exemplar lässt sich auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts datieren, die jüngsten Texte wurden in den 1950er-Jahren niedergeschrieben. Sie umfassen Gesänge, Erzählungen und Details zum Ablauf des Cem-Rituals, klassische Dichtungen oder religiöse Traktate. Abschriften bekannter Texte des Alevitentums sind ebenso vertreten wie bisher unbekannte Inhalte. Die Bücher und Hefte sind teils in Schönschrift angefertigt, teils mit Anmerkungen und Korrekturen versehen. Vielfach wurden sie zum Vorlesen für Gemeindemitglieder genutzt oder von Geistlichen als Gedächtnisstütze aufbewahrt. Interessant sind dabei auch die Bestrebungen, Dichtung und andere Texte für den Eigengebrauch erstmals schriftlich festzuhalten. Abgefasst wurden die meisten Texte in arabisch-persischer Schrift, die auch nach der Schriftreform des Türkischen von 1928 noch verwendet wurde. Alle Handschriften sind digitalisiert, ihre Katalogisierung ist derzeit in Arbeit.
Umfang der Sammlung:
Die Sammlung umfasst 28 Manuskripte unterschiedlichen Formats und Umfangs. Weitere Handschriften aus anderen, meist privaten alevitischen Sammlungen liegen in Kopie vor.
Existiert seit:
Die Handschriften wurden den Heidelberger Islamforschern 2004 überlassen.
Nutzung in Forschung und Lehre:
Die Handschriften werden gemeinsam mit Reproduktionen anderer Manuskripte in der Forschungsstelle „Handschriften aus alevitischen Familienarchiven“ bearbeitet, die aus einem Teilprojekt des SFB „Ritualdynamik“ (2013 beendet) hervorgegangen ist. Ziel ist es zunächst, die Handschriften in einem Katalog zu beschreiben und der weiteren Bearbeitung zugänglich zu machen, was erheblich zur Grundlagenforschung über die alevitische Religionsgeschichte beiträgt: Rituale lassen sich in ihren Abläufen, Entwicklungen und Variationen nachvollziehen, Rückschlüsse auf eventuelle Vorläufer können gezogen und die schriftliche Weitergabe des religiösen Wissens beobachtet werden. Durch Kontakte zu alevitischen Gemeinden in den ländlichen Herkunftsregionen Anatoliens ist auch empirische Arbeit und der Vergleich der historischen schriftlichen Zeugnisse mit der heute „gelebten Tradition“ in der Türkei wie auch in der Diaspora möglich.
In der Lehre werden die Handschriften vor allem in der paläografischen Ausbildung eingesetzt, um den Studierenden das Lesen handgeschriebener Texte des Osmanischen im arabisch-persischen Alphabet beizubringen. Aufgrund des privaten Charakters der Schriften und ihrer Übergabe zur Bearbeitung speziell durch die Heidelberger Wissenschaftler ist eine weitere Öffnung der Schriften nach außen – sei es an externe Wissenschaftler oder die interessierte Öffentlichkeit – derzeit noch nicht möglich.
Das sagt der Sammlungsbeauftragte, Dr. Robert Langer:
„Die Universität Heidelberg hat auch dank unserer Manuskriptsammlung eine singuläre Stellung in der Alevitenforschung. Leider sind das weitere Bestehen, die wissenschaftliche Bearbeitung und die Pflege der Sammlung unklar. Die derzeitige Finanzierung als ein Projekt im Field of Focus „Kulturelle Dynamik in globalisierten Welten“ ist nur bis August 2014 gesichert. Schon jetzt fehlen die Mittel zur Anschaffung von Schränken für die angemessene Archivierung und eine professionelle Restaurierung, die bei vielen Schriften nötig wäre. Mit einer längerfristigen Finanzierung könnten wir die Sammlung mit Digitalisaten vergleichbarer Bestände weiter ausbauen – es gibt noch eine Vielzahl weiterer Schriften zum Alevitentum, die sich wissenschaftlich auswerten lassen. Die Forschung an der Handschriftensammlung kann schließlich als Alleinstellungsmerkmal der Heidelberger Osmanistik gelten, das weit über die „klassischen“ Themenfelder dieses Fachbereichs hinausweist.“
Tina Schäfer