Bereichsbild
Kontakt

Dr. Maike Rotzoll
Historisches Archiv der Psy­ch­i­at­rischen Universitätsklinik
Tel.: +49 6221 54-8960
maike.rotzoll@histmed.uni-heidelberg.de

 
Weitere Informationen
SUCHE

Einblicke in mehr als 130 Jahre Psychiatrie-Geschichte

Das Historische Archiv der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg

Mikrometeorit

Foto: Robert Ajtai

Lazarettakten aus dem Ersten Weltkrieg

Kurzbeschreibung:

Aufnahmebögen, Lazarettakten, Diagnosehefte, Gutachten, Korrespondenz, Baupläne, Verwaltungsakten, Beschwerden, Nachlässe – zehntausende von Unterlagen aus der Geschichte der Psychiatrischen Klinik lagern in den Schränken im Dachgeschoss der Klinik. Einen Teilbestand bilden Akten aus beiden Weltkriegen, als das Gebäude der Psychiatrie als Lazarett genutzt wurde. Zahlreiche Gutachten, etwa zur Schuldfähigkeit von Angeklagten in Strafprozessen, vielfach auch in den 1950er- und 1960er-Jahren erstellte Beurteilungen für Entschädigungsverfahren von Verfolgten im Nationalsozialismus, machen einen weiteren Teil des Archivs aus. Zu den bedrückenden Zeugnissen aus der NS-Zeit gehören auch Unterlagen zu einem „Forschungsprojekt“ zur sogenannten Kinder-Euthanasie. Ein Teil der Personalverwaltungsunterlagen aus der Gründungszeit der Klinik ab 1878 ist ebenso archiviert wie Aufnahmekarten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die auch das Auffinden von ehemaligen Patienten ermöglichen. Der Bestand umfasst zudem Akten aus dem Sanatorium Neckargemünd, wo um 1900 viele jüdische Bürger behandelt wurden. Diese Arzt- und Patientenunterlagen sind „Dokumente einer verschwundenen Welt und geben schlaglichtartige Einblicke in die damalige Zeit“, so Dr. Maike Rotzoll, die das Archiv betreut. Nachlässe von Professoren werden ebenfalls aufbewahrt. An Dokumenten des ehemaligen Klinikdirektors Prof. Dr. Christoph Mundt lässt sich zum Beispiel die Entstehung des Museums der Sammlung Prinzhorn nachvollziehen. Eine Erschließung und Katalogisierung dieser sehr diversen Bestände ist derzeit in Arbeit. Die psychiatrischen Krankengeschichten der Universitätsklinik selbst sind nicht Teil dieses Bestands. Sie lagern im Universitätsarchiv und im Altarchiv des Klinikums in Wieblingen.

Umfang der Sammlung:

Viele tausend Akten und Unterlagen lagern im Archiv. Der Gesamtbestand ist bisher nicht erfasst.

Existiert seit:

Seit der Gründung der Klinik als „Großherzoglich Badische Universitäts-Irrenklinik Heidelberg“ im Jahr 1878 werden Unterlagen aufbewahrt. In den jetzigen Räumlichkeiten ist das Archiv seit 2006 untergebracht.

Nutzung in Forschung und Lehre:

Einzelne Archivalien, etwa die Lazarettakten, dienen als Lehrmaterial in Seminaren zur Medizin- bzw. Psychiatriegeschichte. Das wissenschaftliche Interesse an den Beständen gilt vielfach der Aufarbeitung der Nazi-Zeit und der Entwicklung der modernen Psychiatrie. Die Lazarettakten werden derzeit im Rahmen eines Promotionsprojekts erschlossen. Eine enge Zusammenarbeit besteht mit der Sammlung Prinzhorn, etwa im Forschungsprojekt „Uniform und Eigensinn“ zu Militarismus, Weltkrieg und Kunst in der Psychiatrie, aus dem die gleichnamige aktuelle Ausstellung der Sammlung Prinzhorn hervorgegangen ist.

Nutzung als Museum:

Das Archiv ist nicht öffentlich zugänglich. Vereinzelt erhalten Schulklassen Einsicht in die Unterlagen, meist im Kontext des Unterrichts zur NS-Zeit.

Das sagt Dr. Maike Rotzoll, die das Archiv betreut:

„Es ist großartig, dass die Klinik so geschichtsbewusst ist, diese Bestände zu erhalten und für wissenschaftliche Zwecke nutzbar zu machen. Die ehemalige Klinikkapelle, in der das Archiv untergebracht ist, bietet deutlich bessere Bedingungen als eine Lagerung im Keller. Ein wichtiges Ziel ist derzeit die weitere Erschließung und die Digitalisierung der Unterlagen – einzelne Archivalien, vor allem die Akten zu den Forschungskindern, sind in einem schlechten Zustand. Im Hinblick auf die ‚Museumsarbeit‘ freue ich mich, dass Schulen oft Interesse am Archiv zeigen, andererseits kann ich das Archiv nicht aktiv bewerben. Denn leider fehlen die Ressourcen, um dem Interesse der Öffentlichkeit mit einem adäquaten Angebot zu begegnen.“

Das besondere Objekt:

Forschungskind Anita
Foto von Anita A. aus Mannheim, die im Rahmen des "Forschungskinder"-Projektes mit vier Jahren umgebracht wurde (zum Vergrößern klicken)

Der unscheinbare Stapel blauer Aktenmappen, die mit F1 bis F52 durchnummeriert sind, sieht nach gewöhnlicher Bürokratie aus. Zwischen den Aktendeckeln jedoch steckt die Dokumentation eines Verbrechens: 1943/44 wurden in der Psychiatrisch-Neurologischen Klinik Heidelberg 52 Kinder im Alter von drei bis 17 Jahren untersucht, die an verschiedenen Formen von „Schwachsinn“, also geistiger Behinderung, litten. Das Forschungsprojekt im Auftrag der „Euthanasiedienststelle“ in Berlin sollte Kriterien entwickeln, wann Kinder als „lebensunwert“ gelten und Eltern zur Sterilisierung gezwungen werden sollten.

Die „Forschungskinder“ kamen vor allem aus einer „Erziehungs- und Pflegeanstalt für Geistesschwache“ in Mosbach in die Heidelberger Klinik. Das jeweilige Akteninhaltsverzeichnis listet den typischen Behandlungsablauf auf: psychologische Tests und körperliche Untersuchungen, darunter auch Röntgenaufnahmen des Gehirns, sowie eine arbeitstherapeutische Beurteilung gehörten zum Programm.

Detail Akteninhaltsverzeichnis
Detail eines typischen Akten­inhalts­verzeichnisses ganzes Blatt 1 | ganzes Blatt 2

Nach vier bis sechs Wochen wurden die Kinder zunächst zurückverlegt und später in die „Kinderfachabteilung“ der Landesheilanstalt Eichberg bei Wiesbaden überführt. Viele von ihnen wurden in dieser Einrichtung des NS-Euthanasieprogramms nach weiteren Untersuchungen ermordet. Dazu wurde das Beruhigungsmittel Luminal eingesetzt, das die Atmung erschwert und tödliche Lungenentzündungen bewirkt. 21 der 52 Kinder haben das „Forschungsprojekt“ nicht überlebt. Eine Sektion des Gehirns – diese wiederum in Heidelberg – war laut Akteninhaltsverzeichnis standardmäßig vorgesehen. Allerdings wurden nur drei Gehirne tatsächlich untersucht. Die Wirren des ausgehenden Krieges verhinderten den weiteren Organtransport und letztlich auch den Abschluss des "Projekts".

Ein Mahnmal vor dem Eingang der Klinik erinnert an das Schicksal der 21 ermordeten Kinder. 2015 soll am 27. Januar, dem jährlichen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, auch eine Hinweistafel installiert werden, die die näheren Umstände erläutert.

Tina Schäfer

Dieser Artikel ist in einer gekürzten Fassung im UNISPIEGEL 4/2014 erschienen.
E-Mail: Seitenbearbeiter
Letzte Änderung: 12.12.2014
zum Seitenanfang/up