Repräsentationen des Alter(n)s in der Literatur der Gegenwart
Referentin: Prof. Dr. Henriette Herwig, Universität Düsseldorf
Vortrag am 13. Juli 2015
Seit René Descartes gilt die Fähigkeit, zu denken und das eigene Leben zu reflektieren, als Voraussetzung der menschlichen Individualität und Identität. Mit der Zunahme demenzieller Erkrankungen, die zu den negativen Folgen der Langlebigkeit gehört, wird diese Grundvariable menschlicher Existenz in Frage gestellt. Das macht eine Korrektur des Menschenbildes und neue Formen der Wahrnehmung und des Fremdverstehens erforderlich. Der Beitrag zeigt, wie (auto)biographische und fiktionale Texte der Gegenwart demenzielle Erkrankungen aus wechselnden Perspektiven darstellen und dem Prozess des progressiven Erinnerungsverlusts, des körperlichen Verfalls, des Verlusts von kognitiven Fähigkeiten, der Sprach- und Handlungskompetenz, der Identität und des Zerfalls sozialer Netzwerke damit eine für andere nachvollziehbare Sprache geben. Leitend ist dabei die Frage, ob der Verlust von kognitiven Fähigkeiten, von Autonomie und Identität durch verstärkte Akzeptanz emotionaler Ausdrucksformen kompensiert werden kann, und auf welche Weise die Texte die Möglichkeit dieses Ausgleichs gestalten.
Prof. Dr. Henriette Herwig (Jahrgang 1956) ist seit 2003 Lehrstuhlinhaberin im Fach „Neuere deutsche Literaturwissenschaft“ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Sie studierte an den Universitäten Kassel, Zürich und Bern, Harvard und Duke (USA). Promoviert wurde sie 1985 mit einer Arbeit über Botho Strauß, die Habilitation erfolgte 1996 über Goethes Altersroman „Wilhelm Meisters Wanderjahre“. Herwig übernahm Lehrstuhlvertretungen und Gastdozenturen an den Universitäten Basel, Bern, Freiburg i.Br., Düsseldorf, Wien und an der FU Berlin. 2001 bis 2003 war sie Professorin für „Neuere deutsche Literaturgeschichte“ an der Universität Freiburg i.Br.. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Goethe und Goethezeit, historische Anthropologie, Literatur des 19. bis 21. Jahrhunderts, Schweizer Literatur, Literaturtheorie, Gender Studies und Cultural Gerontology.