Interview „Alte Menschen können ein gutes Vorbild sein“

24. März 2020

Interview mit Andreas Kruse über hochreflektiertes Lebenswissen und besondere Bedürfnisse in Krisensituationen wie der Coronavirus-Pandemie

Zu den besonderen Bedürfnissen alter und pflegebedürftiger Menschen in Krisensituationen wie der aktuellen Coronavirus-Pandemie äußert sich Prof. Dr. Andreas Kruse, Direktor des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg. Sie sind in besonderer Weise auf genaue Informationen und emotionale Unterstützung angewiesen, zeichnen sich aber auch durch hochreflektiertes Lebenswissen aus. „Die psychische Widerstandsfähigkeit vieler alter Menschen darf nicht unterschätzt werden“, sagt der Heidelberger Wissenschaftler. „Sie können ein gutes Vorbild sein.“

Andreas Kruse

Wie begegnen alte Menschen einer Krisensituation wie der Coronavirus-Pandemie?

Alte und junge Menschen unterscheiden sich erheblich in der Art ihrer Antworten auf eine derartige Situation. Empfehlungen mit Blick auf die Sensibilisierung der Bevölkerung müssen daher differenziert ausfallen. Viele alte Menschen verfügen über ein hochreflektiertes Lebenswissen. Sie kennen aus ihrer persönlichen Geschichte Belastungen, Krisen und Grenzsituationen. In solchen Situationen haben sie vielfach Vertrauen auf eine gute Zukunft, Hoffnung auf eine letztlich positive Entwicklung sowie eine besondere Sensibilität für mögliche Risiken und Gefahren ausgebildet. Diese differenzierte Reaktion zeichnet viele alte Menschen aus. Ihre psychische Widerstandsfähigkeit darf nicht unterschätzt werden. Sie können umsichtig und reflektiert mit zum Teil erheblichen Belastungen und Einschränkungen umgehen.

Welche besonderen Bedürfnisse haben alte Menschen in dieser Situation?

Alte Menschen sind in besonderer Weise darauf angewiesen, sehr genaue Informationen zu erhalten. Wovor soll geschützt werden? Warum sind bestimmte Maßnahmen notwendig und wozu dienen sie? Für die Aussage, dass diese Maßnahmen auch und zuvorderst ihrem Schutz dienen, sind sie in positiver Hinsicht empfänglich. Wichtig für alte Menschen ist zudem die Erfahrung, dass sie ein bedeutsamer Teil unserer Gesellschaft, der Familie wie auch der außerfamiliären Netzwerke sind. Die Vermittlung dieser Erfahrung kann in ihrer Relevanz für Lebensqualität, Wohlbefinden und Widerstandsfähigkeit nicht hoch genug gewertet werden.

Alte Menschen gehören zur Risikogruppe, sie sind besonders gefährdet. Wie kann man sie am besten schützen, insbesondere auch dann, wenn sie auf die Hilfe von Pflegerinnen und Pflegern angewiesen sind?

Zunächst ist der Schutz vor einer Infektion oberstes Gebot; dieser besitzt Priorität. Schutz vor Infektion bedeutet, die Kontakte mit anderen Menschen auf das Mindestmaß zu reduzieren. Beim Pflegepersonal, egal ob es sich um ambulante oder stationäre Pflege handelt, kann durch regelmäßige Abstriche sichergestellt werden, dass keine Infektion vorliegt. Das ist besonders wichtig, wird aber noch viel zu oft vernachlässigt. Pflegefachkräfte benötigen dringend einen obligatorischen Mundschutz und sollten auf Schutzkleidung zurückgreifen können. Diese und die bekannten hygienischen Grundmaßnahmen müssen ohne zeitlichen Verzug umgesetzt werden. Zum anderen sind personelle Entlastungen zu schaffen, und zwar durch Finanzierung aus Mitteln der Kranken- und Pflegeversicherung wie auch durch Finanzierung aus Steuermitteln.

In Pflegeheimen dürfen keine Besucher mehr empfangen werden. Welche Auswirkungen – auch psychisch – kann das für die Bewohner haben? Wie kann man trotzdem für Abwechslung sorgen?

Die Pflegeheime stehen vor einer wirklich großen Herausforderung: Enge Kontakte, die die Bewohnerinnen und Bewohner mit Menschen gepflegt haben, die regelmäßig zu Besuch kamen, müssen nun durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kompensiert werden. Wichtig ist vor allem das persönliche Gespräch, insbesondere für diejenigen, die von chronischen Schmerzen, psychischen Veränderungen und demenziellen Erkrankungen betroffen sind. Menschen im hohen Alter sind auf diese eher intimen Gespräche an sich schon in stärkerem Maße angewiesen. In Grenzsituationen nimmt diese Angewiesenheit noch einmal zu. Aus diesem Grunde müssen Heime mit finanziellen Ressourcen ausgestattet werden, durch die sie in die Lage versetzt werden, Unterstützung auch mit Blick auf die soziale Kommunikation zu erhalten. Dafür könnten ehemalige Pflegefachkräfte, Sozialarbeiter, Seelsorger, Ärzte oder Psychologen gewonnen werden.

Gibt es unterstützende Angebote, die Angehörige auch aus der Ferne leisten können?

Hier kommen Telefonate, persönliche Briefe und Sympathiebezeugungen, unbedingt auch durch junge Leute, ins Spiel. Jene alten Menschen, die eine gewisse Technik- und Computererfahrung haben, sollten elektronische Medien und Plattformen dringend nutzen und darin unterstützt werden. Videotelefonate oder auch elektronische Aufnahmen können in Krisensituationen eine genauso positive Wirkung wie Face-to-Face-Kontakte haben, wenn vertraute Stimmen zu hören und vertraute Gesichter zu sehen sind. Entscheidend ist hier die emotional positive Botschaft.

Was können wir in dieser Situation voneinander lernen?

Alte Menschen können ein gutes Vorbild sein, wenn es um ihr Lebenswissen und die Reflexion von Erfahrungen geht – und das sollte man ihnen auch vermitteln. Junge Menschen müssen lernen: Sie sind zwar nicht in gleichem Maße gefährdet wie Ältere, aber auch bei ihnen besteht ein deutlich erkennbares Risiko. Ihnen muss verdeutlicht werden, welche Formen der Solidarität auch von Angehörigen ihrer Altersgruppe bereits heute praktiziert werden. Die Effekte dieser Solidarität sollen sie nicht durch unvorsichtiges, unsensibles Verhalten gefährden.

Zur Person

Prof. Dr. Andreas Kruse, Psychologe und Altersforscher, ist seit 1997 Direktor des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg. Der Wissenschaftler ist Mitglied in zentralen nationalen und internationalen politischen Fachausschüssen – darunter die Altenberichtskommission der Bundesregierung und der Deutschen Ethikrat. Für seine wissenschaftlichen Verdienste erhielt Prof. Kruse zahlreiche Auszeichnungen.