Interview Auf den Spuren geraubter Bücher
15. Januar 2025
Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungsprojekts zu NS-Raubgut in der Universitätsbibliothek Heidelberg stellt Arbeit vor
Millionen von Büchern wurden während der Zeit des Nationalsozialismus von staatlichen Akteuren aus öffentlichen Bibliotheken und privaten Sammlungen systematisch geraubt. Dies stand im Zusammenhang mit der Unterdrückung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung, diente aber auch der Bekämpfung politischer Gegner. Ein großer Teil der Bücher – wenn sie nicht vernichtet wurden – landete in den Regalen deutscher Universitätsbibliotheken. Wir sprachen dazu mit Dr. Christian Gildhoff, wissenschaftlicher Mitarbeiter eines Bibliotheksprojekts zur Erforschung der damaligen Situation in Heidelberg. Gefördert werden die Arbeiten vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste.
Auch in die Heidelberger Universitätsbibliothek gelangten nach Etablierung der NS-Herrschaft Bücher, die ihren Besitzern zwangsweise entzogen wurden. Wie kam es dazu?
Gildhoff: Bekannt ist, dass die Universitätsbibliothek Heidelberg ab 1934 Bücher aus konfiszierten Beständen übernommen hat. Die Initiative ging dabei in der Regel von staatlichen Stellen aus. Dabei handelte es sich zunächst um verbotene Literatur, hierfür war die Preußische Staatsbibliothek in Berlin die zentrale Empfänger- und Verteilerinstitution. Zudem erhielt die Universitätsbibliothek Bücher, die von der zuständigen Polizei im Heidelberg-Mannheimer Raum oder von lokalen Instanzen konfisziert worden waren. Im Zuge der NS-Verfolgung wurden aber auch ganze Bibliotheken beschlagnahmt, beispielsweise von Gewerkschaften und Arbeiterorganisationen. Hinzu kamen mehr und mehr Bücher jüdischer Vorbesitzer, zunächst aus Not- und Zwangsverkäufen, später auch aus Enteignungen. In der Regel gelangten diese eher versteckt durch Ankäufe bei Antiquariaten als Raubgut in den Bibliotheksbestand. Schließlich finden sich in Heidelberg auch Bücher, die während des Zweiten Weltkriegs aus osteuropäischen Bibliotheken entwendet wurden.
Um was für Bücher handelte es sich?
Gildhoff: Wissenschaftliche Publikationen spielten eher eine untergeordnete Rolle. Unter den beschlagnahmten Werken befanden sich insbesondere jene Bücher, die auf den Verbotslisten der Nationalsozialisten standen und folglich als unerwünschte oder verbotene Literatur galten. Dazu zählten moderne Belletristik, pazifistisches und marxistisches Schrifttum oder allgemein Werke verfemter und verfolgter Autorinnen und Autoren in der NS-Zeit.
Heißt das, dass diese Werke nach ihrer Beschlagnahmung weiterhin öffentlich zugänglich waren?
Gildhoff: Das war nicht der Fall. Es gab konkrete Vorgaben, dass konfiszierte Bücher zu separieren sind und allenfalls einem beschränkten Nutzerkreis unter Auflagen zugänglich gemacht werden dürfen, etwa bei besonderem wissenschaftlichem Interesse. In Begleitschreiben wurde zudem angeordnet, „unerwünschte Bücher“ zu makulieren, sprich: aus dem Verkehr zu ziehen. Diese Anweisung blieb jedoch unbeachtet, was zu der paradoxen Situation führte, dass im Zuge der Übernahme Bücher vor der Vernichtung bewahrt wurden. Einen bewussten Widerstand seitens der damaligen Bibliotheksleitung darf man darin aber nicht sehen. Ihre Intention bestand vor allem darin, vorhandene Bestände zu ergänzen und zu vergrößern.
Wie machen Sie die geraubten Bücher in den Beständen der Universitätsbibliothek ausfindig?
Gildhoff: Im Gegensatz zu vielen anderen Bibliotheken, in denen Neuerwerbungen nach Zugangsjahren sortiert sind und der betreffende Bestand somit leicht erreichbar ist, haben wir es in Heidelberg bis 1962 mit einer Sortierung nach thematischen Sachgruppen zu tun. Das erschwert die Suche, da wir damit keinen unmittelbaren Zugriff auf den Bestand nach Zugang haben. Hinzu kommt, dass von 1939 an keine Erwerbungsbücher mehr vorliegen. So sind wir vor allem auf die handschriftlich verfassten Karteikarten des Katalogs angewiesen, auf denen glücklicherweise das Zugangsdatum – zumindest aber das Jahr – vermerkt ist. Der Bestand umfasst rund 460.000 Karten. Immerhin liegen sie bereits in digitalisierter Form vor.
Muss bei dieser Suche denn jedes Buch aus dem betreffenden Zeitraum untersucht werden?
Gildhoff: Nein, das ist nicht erforderlich. Wir überprüfen die Bücher, bei denen zwischen Erscheinungsjahr und Erwerbungsjahr fünf Jahre oder mehr verstrichen sind. Denn Neuerscheinungen, davon gehen wir aus, wurden regulär gekauft. In einem weiteren Schritt suchen wir in den ermittelten Büchern nach Provenienzmerkmalen wie beispielsweise Besitzvermerken oder Herkunftsnachweisen. Allzu hohe Trefferquoten haben wir nicht. Von den bislang durchgesehenen Büchern können wir, um eine ungefähre Größenordnung zu nennen, rund 450 Exemplare in Kategorien wie „verdächtig“, „wahrscheinliches Raubgut“ oder „sicheres Raubgut“ einordnen. Das entspricht etwa zwei bis drei Prozent aller Zugänge in dieser Zeit.
Mit diesem Projekt haben wir uns zu einer Restitution verpflichtet, das war auch Voraussetzung für die Förderung durch das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste.
Dr. Christian Gildhoff
Wie geht die Universitätsbibliothek mit Büchern um, die eindeutig als Raubgut identifiziert wurden? Erfolgt eine Rückgabe, etwa an Erben der früheren Besitzer?
Gildhoff: Mit diesem Projekt haben wir uns zu einer Restitution verpflichtet, das war auch Voraussetzung für die Förderung durch das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste. Sobald wir die historische Recherche abgeschlossen haben, steht die aufwendige Erbenermittlung an. Mit zwei Nachkommen von Besitzern aus den USA und den Niederlanden haben wir bereits Kontakt aufgenommen. Beide haben lediglich um Fotos gebeten, auf eine Rückgabe aber verzichtet. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass die meisten Bücher in materieller Hinsicht keinen großen Wert besitzen, was diese Art von Raubgut beispielsweise von kostbaren Kunstwerken unterscheidet.
Erfolgt auch eine öffentliche Dokumentation der als NS-Raubgut identifizierten Bücher, die über die individuelle Restitution hinausgeht?
Gildhoff: Das ist ebenfalls ein wichtiger Teil dieses Projekts. Unabhängig davon, ob die Bücher in der Universitätsbibliothek verbleiben oder an die Erben zurückgegeben werden, erhalten sie in jedem Fall eine eindeutige Kennzeichnung. Sowohl im physischen Exemplar als auch im digitalen Bücherkatalog wird vermerkt, dass es sich um Raubgut handelt, das im Rahmen des Heidelberger Projekts identifiziert wurde. Zudem wird in beiden Szenarien der Name des ursprünglichen Eigentümers dokumentiert. Darüber hinaus werden die für eine Identifizierung relevanten Bücherzeichen oder Vermerke – also zum Beispiel ein Ex Libris – digitalisiert und über die Datenbanken „Looted Cultural Assets“ und „Lost Art“ weltweit online zur Verfügung gestellt. Dies eröffnet zudem die Möglichkeit, dass sich ehemalige Eigentümer beziehungsweise deren Nachkommen eigeninitiativ mit uns in Verbindung setzen können. Das Projekt trägt so nicht nur zur Aufarbeitung der Enteignungs- und Verfolgungsgeschichte in der NS-Zeit auf lokaler Ebene, sondern auch in einem größeren Kontext bei.
Info
Das Projekt „Ermittlungen von NS-Raubgut in den Zugängen der Jahre 1933 bis1945 der Universitätsbibliothek Heidelberg“ ist in der von Dr. Karin Zimmermann geleiteten Abteilung „Historische Sammlungen“ angesiedelt. Das Vorhaben wird seit 2023 von der Bundesstiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste gefördert. Mit ausgewählten Objekten wird es noch bis 28. Februar 2025 in einer kleinen Vitrinen-Ausstellung in der Universitätsbibliothek vorgestellt. Sie ist zu den regulären Öffnungszeiten im Foyer des Hauptgebäudes, Plöck 107–109, zu sehen.