Forschung Wie sich Organfunktionen im Laufe der Evolution herausgebildet haben

Pressemitteilung Nr. 97/2020
11. November 2020

Heidelberger Forscher gewinnen grundlegende neue Erkenntnisse zur Evolution und Steuerung der Genexpression in Säugetierorganen

Grundlegende neue Erkenntnisse zur Evolution und Steuerung der Genexpression in Säugetierorganen hat eine große Vergleichsstudie erbracht, die Molekularbiologen der Universität Heidelberg durchgeführt haben. Sie untersuchten dazu die RNA-Synthese und die nachfolgende Proteinsynthese in Organen des Menschen sowie anderen ausgewählten Säugetieren und haben dafür mithilfe von Sequenzierungstechnologien mehr als 100 Milliarden Fragmente der Genexpression verschiedener Organe analysiert. So konnten sie zeigen, dass das fein abgestimmte Zusammenspiel der beiden Syntheseprozesse im Laufe der Evolution entscheidend für die Herausbildung von Organfunktionen gewesen ist.

genomischen Grundlagen der Organevolution

Ein komplexes Zusammenspiel der Aktivität einer großen Zahl von Genen – die Genexpression – liegt der Funktion von Organen zugrunde. „Bisher war das Verständnis dieser essenziellen genetischen Programme in Säugetieren auf die erste Ebene der Genexpression, die Synthese der Boten-RNA, beschränkt“, so Prof. Dr. Henrik Kaessmann, der am Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Heidelberg (ZMBH) die Forschungsgruppe „Evolution des Säugetiergenoms“ leitet. „Weitgehend unbekannt war in diesem Zusammenhang aber die nächste Ebene, die eigentliche Herstellung der Proteine am Ribosom durch das Ablesen der Boten-RNA, die sogenannte Translation.“

Diesen zweiten Syntheseprozess haben die Heidelberger Wissenschaftler nun in den Blick genommen. Mithilfe sogenannter Next-Generation-Sequenzierungstechnologien analysierten sie die Genexpression verschiedener Organe auf beiden Ebenen. Untersucht wurden Gehirn, Leber und Hoden des Menschen sowie anderer ausgewählter Säugetiere, darunter Rhesusaffe, Maus, Opossum und Schnabeltier. „Auf der Grundlage dieser Daten konnten wir mithilfe von modernen bioinformatischen Analysemethoden die beiden Ebenen der Genexpression zwischen verschiedenen Säugetierorganen vergleichen“, erläutert Dr. Evgeny Leushkin vom ZMBH.

In ihrer großangelegten Studie zeigen die Forscher des ZMBH, dass das fein abgestimmte Zusammenspiel der beiden Syntheseprozesse im Laufe der Evolution von entscheidender Bedeutung für die Herausbildung von Organfunktionen gewesen ist. So konnten sie erstmals nachweisen, dass zusätzlich zur Steuerung der Synthese von Boten-RNA weitere Steuerungsmechanismen auf der Ebene der Translation dafür sorgen, dass die Menge produzierter Proteine in allen Organen optimiert wird. Dies gilt insbesondere im Hoden, wo die Translationssteuerung entscheidend für die Spermienentwicklung ist. Eine weitere grundlegende Erkenntnis betrifft mutationsbedingte Änderungen der Genexpressionssteuerung, die im Laufe der Evolution auftraten. Diese wurden häufig zwischen den Ebenen „ausbalanciert“. Dabei wurden vor allem solche Änderungen bewahrt, die sich gegenseitig aufheben, um die Produktion unveränderter Mengen an Proteinen sicherzustellen.

An den Arbeiten waren Wissenschaftler aus Frankreich und der Schweiz beteiligt. Die Studien wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem European Research Council gefördert. Die Daten sind in einer frei zugänglichen Datenbank abrufbar. Die Forschungsergebnisse wurden in „Nature“ veröffentlicht.

Originalpublikation

Z.Y. Wang, E. Leushkin, A. Liechti, S. Ovchinnikova, K. Mößinger, T. Brüning, C. Rummel, F. Grützner, M. Cardoso-Moreira, P. Janich, D. Gatfield, B. Diagouraga, B. de Massy, M.E. Gill, A.H.F.M. Peters, S. Anders, and H. Kaessmann: Transcriptome and translatome co-evolution in mammals. In: Nature (2020), https://doi.org/10.1038/s41586-020-2899-z