Forschung Wie sich pflanzliche Kältespezialisten an die Umwelt anpassen können
Pressemitteilung Nr. 85/2024
12. Juli 2024
Internationales Team von Evolutionsbiologen untersucht genomische Grundlagen für das Anpassungspotential von Löffelkräutern
Pflanzliche Kältespezialisten wie die Löffelkräuter haben sich gut an die Kaltklimate der Eiszeitalter angepasst. Im Wechsel verschiedener Eis- und Warmzeiten entwickelten sie eine Vielzahl von Arten, die auch eine Vervielfachung der Genome zur Folge hatte. Evolutionsbiologen der Universitäten Heidelberg, Nottingham und Prag haben untersucht, welchen Einfluss diese Genomduplikation auf das Anpassungspotential von Pflanzen hat. Die Ergebnisse zeigen, dass Polyploide – Arten mit mehr als zwei Chromosomensätzen – eine Anhäufung von strukturellen Mutationen mit Signalen für eine mögliche lokale Anpassung aufweisen können. Sie sind damit in der Lage, immer wieder von Neuem ökologische Nischen zu besetzen.
Die Gattung der Löffelkräuter aus der Familie der Kreuzblütengewächse hat sich vor mehr als zehn Millionen Jahren von ihren Verwandten aus dem Mittelmeerraum abgespalten. Sind deren direkte Nachfahren unter anderem auf Trockenstress spezialisiert, haben die Löffelkräuter – lateinisch Cochlearia – mit Beginn des Eiszeitalters vor 2,5 Millionen Jahren die kalten und arktischen Lebensräume erobert. Wie sich Cochlearia in den vergangenen zwei Millionen Jahren wiederholt an den raschen Wechsel von Eis- und Warmzeiten anpassen konnte, haben Wissenschaftler unter der Leitung von Prof. Dr. Marcus Koch in früheren Forschungen untersucht. Unter anderem entwickelten sich in dieser Gruppe der neu entstandenen kaltangepassten Pflanzen separate Genpools, die in den Kaltregionen in Kontakt miteinander kamen. Im Genaustausch konnten so Populationen mit multiplen Chromosomensätzen entstehen. Immer wieder in ihrer Genomgröße reduziert, konnten sie anschließend erneut und wiederholt kaltgeprägte ökologische Nischen besetzen.
Dennoch ist, wie Marcus Koch betont, bislang nur wenig bekannt über die genomischen Mechanismen und Potentiale, mit denen sich Pflanzen an rasche Umweltveränderungen anpassen können. „Das ist umso erstaunlicher, da ein Großteil unserer wichtigsten Kulturpflanzen ebenfalls polyploid ist, also vervielfachte Chromosomensätze aufweist. Und gerade dieser Umstand ist das Resultat einer starken Selektion während des Züchtungs- und Ausleseprozesses“, sagt Prof. Koch, dessen Forschungsgruppe „Biodiversität und Pflanzensystematik“ am Centre for Organismal Studies der Universität Heidelberg angesiedelt ist.
Im Rahmen der aktuellen Forschungsarbeiten wurden unter der Leitung von Prof. Dr. Levi Yant ein diploides Referenzgenom mit zwei Chromosomensätzen einer alpinen Löffelkrautart – Cochlearia excelsa – sequenziert und ein sogenanntes Pangenom rekonstruiert. Es führt verschiedene Genomsequenzen zusammen und kann damit aufzeigen, welche genetischen Variationen zwischen Individuen und weiteren Arten bestehen. Dazu wurden mehr als 350 Genome von verschiedenen Cochlearia-Arten mit unterschiedlichen Chromosomensatzzahlen analysiert. „Die Ergebnisse zeigen überraschenderweise, dass Polyploide tatsächlich häufiger als diploide Arten genomische Strukturvarianten mit Signalen für eine mögliche lokale Anpassung aufweisen“, erläutert Prof. Yant, der an der University of Nottingham (Großbritannien) auf dem Gebiet der Evolutionären Genomik forscht.
Diese strukturellen Mutationen sind durch die zusätzlichen Genomkopien versteckt und damit ein Stück weit vor Selektion geschützt, denn die Anhäufung von Strukturvarianten kann auch zum Funktionsverlust führen. Mit ihren Modellierungen konnte das internationale Forschungsteam außerdem zeigen, dass die polyploidspezifischen Strukturvarianten gerade auch in den Genregionen erscheinen, die eine wesentliche Rolle bei zukünftigen Klimaanpassungen spielen könnten. Eine detaillierte Analyse der genomischen Daten ergab, dass es sich hier vor allem um biologische Prozesse der Samenkeimung oder der Resistenz gegen Pflanzenkrankheiten handelt, so Dr. Filip Kolář, der an der Karls-Universität Prag und an der Tschechischen Akademie der Wissenschaften forscht.
Dennoch sei es vermutlich sehr unwahrscheinlich, dass die heute in Mitteleuropa vorkommenden Cochlearia-Arten den Klimawandel letztlich überleben werden, wie Prof. Koch hervorhebt. „Insbesondere die diploide Cochlearia excelsa kann im österreichischen Hochgebirge nicht weiter in höhere und kältere Bereiche wandern, da diese Löffelkraut-Art die Gipfelregionen zum Teil schon erreicht hat. Auch das Pyrenäen-Löffelkraut aus dem mitteleuropäischen Hügel- und Bergland wird es schwer haben.“ Die Forscherinnen und Forscher konnten aber zeigen, dass der gesamte Genpool insbesondere in den polyploiden Kältespezialisten vor allem in den nördlichen Regionen der Erde überdauern kann. Die evolutionäre Geschichte dieser Kreuzblütler liefert damit Hinweise darauf, wie Pflanzen künftig mit den Auswirkungen des Klimawandels zurechtkommen könnten.
Die Arbeiten wurden insbesondere im Rahmen einer Förderung des Europäischen Forschungsrates (ERC) – eines ERC Starting Grants für Levi Yant – durchgeführt. Das kooperierende Team der Universität Heidelberg hat in den vergangenen 25 Jahren das Cochlearia-Modellsystem entwickelt und dafür Fördermittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft erhalten. Veröffentlicht sind die Forschungsergebnisse in „Nature Communications“.
Originalpublikation
T. Hämäla, C. Moore, L. Cowan, M, Carlile, D. Gopaulchan, M.K. Brandrud, S. Birkeland, M. Loose, F. Kolár, M.A. Koch, L. Yant: Impact of whole-genome duplications on structural variant evolution in Cochlearia. Nature Communications 15, 5377 (2024).