Aggressoren in den Berlin-Krisen Interview mit Prof. Dr. Corine Defrance

Prof. Dr. Corine Defrance ist eine renommierte Historikerin, deren Arbeiten einen besonderen Schwerpunkt auf die europäische Zeitgeschichte legen. Insbesondere befasst sie sich mit den deutsch-französischen Beziehungen in der Nachkriegszeit, der Aufarbeitung dieser Geschichte, dem Kalten Krieg in Europa sowie dem Prozess der europäischen Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg. Zu diesen Themen hat sie zahlreiche bedeutende Werke veröffentlicht, darunter Untersuchungen zur deutsch-französischen Geschichte, zum Wiederaufbau und zur Integration in den Jahren 1945 bis 1963 sowie zu den Städtepartnerschaften, Annäherungs- und Versöhnungsprozessen in Europa im 20. Jahrhundert. Außerdem ist sie Teil des Heidelberger Forschungsprojekts Der Aggressor

 

Amr Elashmawy: Ein guter Einstiegspunkt wäre es, zunächst über Ihr aktuelles Forschungsprojekt zu sprechen und dessen Verknüpfung mit dem Aggressor-Projekt zu erläutern.

Corine Defrance: Als Historikerin habe ich mich zuerst mit den deutsch-französischen Beziehungen beschäftigt. Ich wollte verstehen, wie der Prozess der Annäherung und der Versöhnung möglich war. Und ich habe mich mit ihren Akteuren, ihren Formen, ihren Zeiten beschäftigt und auch damit, wie sich ein neues Geschichtsnarrativ herausgebildet hat. Kurz lässt sich sagen, wie aus so genannten „Erbfeinden” „Erbfreunde” geworden sind. Und das hat mich dazu veranlasst, die Frage der Konstruktion und Dekonstruktion von Stereotypen – also Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung – zu untersuchen und auch insbesondere die Revision der Geschichtsbücher und des Geschichtsunterrichts. Diese deutsch-französische Geschichte hat selbstverständlich eine bilaterale Dimension, aber sie integriert sich auch in einen europäischen Kontext und in den des Kalten Krieges. Und es ist dieses Interesse an der Verstrickung dieser drei Dimensionen – bilateral, europäisch und international –, das mich dazu gebracht hat, mich für die Berlin-Krisen der Nachkriegszeit zu interessieren.

Für das Projekt Der Aggressor wollte ich diese Vielfalt der Ansichten über die Figur des Aggressors – also die Multi-Perspektivität – und ihre Entwicklung zwischen den beiden Krisen erfassen. Um das kurz zusammenzufassen: Es gab die erste Berlin-Krise in den Jahren 1948–1949 mit der sowjetischen Blockade und der Luftbrücke der Alliierten. Und zehn Jahre später, 1958 bis 1961, die zweite Berlin-Krise, die mit dem Chruschtschow-Ultimatum begann und mit dem Bau der Berliner Mauer endete. Während des Kalten Krieges wurde die Figur des Feindes von der Propaganda mächtig mobilisiert, um die jeweiligen Blöcke zu konsolidieren.

 

Lisa Fahrni: Welche Arten von Quellen analysieren Sie bei Ihrer Forschung und was macht diese Quellen besonders wertvoll? Gibt es auch besondere methodische Herausforderungen oder Nuancen, die wir bei der Analyse politischer Karikaturen, insbesondere im Kontext des Kalten Krieges, berücksichtigen sollten?

Ich habe zwei Arten von Quellen benutzt. Einerseits die wichtigsten öffentlichen Reden und diplomatischen Gespräche der politischen und diplomatischen Akteure – eine Auswahl selbstverständlich. Und andererseits, wie Sie erwähnt haben, die Pressekarikaturen, die oft expliziter sind und den Aggressor beim Namen nennen. Deshalb sind sie auch so interessant. Ich denke, man muss dabei auf zwei Faktoren achten.

Zuerst: Der Status der Karikatur in der freien Presse ist nicht derselbe wie in der zensierten und offiziellen Presse autoritärer Regime. In demokratischen Systemen finden sich Karikaturen, die mit der Linie der Regierung übereinstimmen, aber auch kritische Karikaturen. Was die erste Berlin-Krise betrifft, denke ich an zwei französische Karikaturen, die jeweils in kommunistischen und gaullistischen Zeitungen veröffentlicht wurden und die offizielle französische Unterstützung West-Berlins bei der Luftbrücke mit großer Zurückhaltung betrachteten.

Was die erste Berlin-Krise – also die Blockade und die Luftbrücke – betrifft, denke ich, dass die Blockade als aggressiver Akt für Moskau schwer darzustellen war. Es war nicht einfach, diese Aggression durch Karikaturen zu illustrieren. Ich glaube, es gab eine gewisse Verlegenheit bei der Darstellung der ersten Berlin-Krise in Karikaturen.

Der zweite Faktor: Man muss die politischen und sozialen Profile der unterschiedlichen Zeitungen, in denen die Karikaturen veröffentlicht wurden, berücksichtigen. Dasselbe gilt für den biografischen Hintergrund der Zeichner. Ich denke zum Beispiel an den sowjetischen Karikaturisten Boris Jefimow. Er wurde 108 Jahre alt und hat am Ende seines Lebens in einem Interview zugegeben: „Ich habe Stalin wie ein treuer Hund gedient.“ Das hat er selbst gesagt. „Die Wahl bestand darin, die Macht zu unterstützen oder in die Opposition zu gehen. Für diese letzte Wahl musste man mehr Mut haben, als ich ihn hatte.“

Karikatur von Boris Jefimow „Eisenhower “verteidigt sich" aus der Zeitung „Pravda“, Juni 1947

Ich dachte auch an den amerikanischen Karikaturisten Edmund Valtman, der vor dem Einmarsch der Roten Armee aus seinem Heimatland Estland geflohen ist. Er konnte schließlich nach Amerika emigrieren, war aber ein überzeugter Antikommunist. Man muss seinen Werdegang und seine persönliche Geschichte kennen, um seine Karikaturen zu verstehen.

Karikatur von Edmund Valtman „Viewing with Concern“ (1962)

Das Gleiche gilt für den niederländischen Karikaturisten Fritz Behrendt – deutscher Abstammung –, der als Kind in die Niederlande emigrierte und als sehr junger Mann in der kommunistischen Widerstandsbewegung in den Niederlanden aktiv war. Er wurde von der Gestapo interniert und zum Tode verurteilt. Sein Leben konnte er nur retten, weil das Kriegsende kam. Als Kommunist arbeitete er zwei bis drei Jahre für Tito, bevor Honecker ihn bat, in die sowjetische Zone zu kommen und für die Freie Deutsche Jugend (FDJ) Karikaturen für die Jugendpropaganda zu zeichnen. Später wurde er jedoch interniert, weil er als Tito-Anhänger eine dubiose Figur für das SED-Regime war. Auf Druck der Niederlande wurde er 1950 freigelassen. Danach wurde er Antikommunist und veröffentlichte antikommunistische Karikaturen in der westlichen Presse. Man muss auch seinen Werdegang im Kopf behalten, denn Karikaturen sind oft Spiegelbilder des Lebens ihrer Zeichner.

A. E.: Welche Bilder von Aggressoren sind in diesen Karikaturen besonders präsent? Wie werden diese Figuren als Aggressoren erkennbar?

Auf beiden Seiten gibt es eine Kluft zwischen nüchternen diplomatischen Noten einerseits und den öffentlichen Reden andererseits, die die Emotionen der Öffentlichkeit gegen den Aggressor mobilisieren sollten. In der ersten Berlin-Krise vermeiden es die großen Vier – die auf dem Papier noch Verbündete waren – den Aggressor beim Namen zu nennen. Man sprach von Aggression und von der Verletzung diplomatischer Regelungen usw. Aber in den Reden der deutschen Politiker gibt es keine solche Zurückhaltung. Der Osten beschuldigt Ernst Reuter, den Bürgermeister von West-Berlin, ein „Vertreter des Monopolkapitalismus“ zu sein, und Adenauer wurde stark, wenn auch meist indirekt, angeprangert.

Im Westen sagte Ernst Reuter in einer Rede am 11. Juli 1948: „Berlin ist heute das Stalingrad der deutschen Freiheit, und in Berlin wird der russische Koloss ein für alle Mal gestoppt werden.“1 Er benutzte eine traditionelle Tiermetapher – den Appetit des russischen Bären –, die sich auf die angebliche Bestialität des Feindes bezog.

 

Es sind meistens die Karikaturisten, die den Feind benennen, indem sie ihm ein Gesicht geben. Die Karikatur veranschaulicht den Kampf zwischen Truman und Stalin oft in Form eines Duells – aber eines asymmetrischen Duells, da Truman eine Atomwaffe bei sich trägt. Während der ersten Berlin-Krise finden sich in der westlichen Presse zahlreiche symbolische Darstellungen, etwa von Uncle Sam, Germania oder dem weitaus sympathischeren Michel, aber auch zahlreiche Tiermetaphern des Aggressors.

L. F.: Wie kann diese Darstellung von Politikern als Tiere interpretiert werden? Beruhen diese Darstellungen auf vorhandenen/bekannten Bildern/Typen?

Die häufigste Tiermetapher im Westen ist die des Bären, um die Sowjetunion darzustellen. Es handelt sich um eine sehr alte Darstellung Russlands, die mindestens seit dem 16. Jahrhundert existiert. In der nordischen Mythologie verweist der Bär auf eine barbarische, gefräßige Natur, die besonders gewalttätig ist und auch als Frauenvergewaltiger dargestellt wird. In der Karikatur finden wir das Motiv der Vergewaltigung Berlins, das als eine junge Frau dargestellt wird. Der Bär wird hungrig und mit blutigen Krallen dargestellt und umklammert die gesamte Stadt Berlin mit seinen Vorderpfoten.

Aber auch 1948/49 in der westlichen Presse findet man die klassische Darstellung Berlins in Form eines Bären, da der Bär auch das Symbol der Stadt ist. Dieser Bär wird zwischen den westlichen Drei und der Sowjetunion zerrissen, die ihm sprichwörtlich das Fell abziehen. Hier ist Berlin das Opfer der Aggression, versucht sich jedoch in die Arme des Westens zu werfen.

Während der zweiten Berlin-Krise wird die Stadt manchmal noch durch einen Bären dargestellt, doch dann ist es ein Teddybär, den Willy Brandt vor dem Mauerbau an der Hand hält.

Ich habe keine Tierkarikatur als Darstellung für die westlichen Mächte gefunden. Allerdings wird die Luftbrücke manchmal durch einen Flug von Störchen symbolisiert, die Kohle, Medikamente und Lebensmittel nach Berlin bringen.

Karikatur von Kukrinyksy „Ein Knoten für Andenken“ aus Krokodil, 1961
Karikatur von Ganfa „Die Freundschaft von Bonn unf Paris“

A. E.: Welche wesentlichen Unterschiede in der Darstellung von Aggressoren haben Sie zwischen den beiden Berlin-Krisen festgestellt und wie interpretieren Sie diese Veränderung?

Während der ersten Berlin-Krise waren die westlichen Politiker noch zurückhaltend, ebenso wie die Sowjetunion, da sie formell noch Verbündete waren. Die Rede vom Aggressor wird im Verlauf der zweiten Berlin-Krise jedoch immer intensiver und aggressiver. Für den Ostblock sind Eisenhower, Kennedy, Macmillan, De Gaulle und Adenauer die Aggressoren. Für den Westblock sind es Chruschtschow, Gromyko und Ulbricht. Die Aggressoren werden nun von allen Politikern namentlich benannt. 

Karikatur von Edmund Valtman „Don't start a fight. I love you and I want to settle this thing peacefully“

Im Unterschied zu früheren Kriegen sind die angeprangerten Aggressoren die politischen Führer und nicht die Völker als Ganzes. Beide Seiten betrachten die Bevölkerung der jeweils anderen Seite als Opfer beziehungsweise Geisel ihrer Regierenden – Opfer des Kommunismus oder Opfer des Kapitalismus. Es handelt sich um eine ideologische Feindschaft und nicht um einen Zusammenprall der Nationen. Es gibt eine gewisse Symmetrie in der Vorgehensweise auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs, und die Karikatur hat oft mit dieser Symmetrie gespielt – eine Symmetrie, die jedoch nie perfekt ist. 

In der zweiten Berlin-Krise ist der Ton schärfer, wahrscheinlich weil die Bedrohung unmittelbar bevorstand. Auf beiden Seiten glaubten viele, dass man sich am Rande eines dritten Weltkriegs und eines Atomkriegs befand. Laut dem französischen Historiker Georges-Henri Soutou war die Gefahr im Juli 1961 sogar noch größer als ein Jahr später, zum Zeitpunkt der Kubakrise.

L. F.: Sie unterscheiden zwischen primären und sekundären Aggressoren. Könnten Sie dies bitte im Zusammenhang mit den Berlin-Krisen (und allgemeiner im Zusammenhang mit dem Kalten Krieg) näher erläutern?

Vor allem in den Jahren 1948/49 wird Berlin oft als Opfer eines Konflikts zwischen den vier großen Besatzungsmächten dargestellt. Diese sehen sich gegenseitig als Hauptaggressoren: die Sowjetunion auf der einen Seite und die Amerikaner, Briten und Franzosen auf der anderen. Wie ich bereits zu Beginn unseres Gesprächs gesagt habe, folgten die Franzosen den Anglo-Amerikanern damals nur sehr zögerlich und ohne jeden Enthusiasmus, da die Erinnerung an die Nazi-Besatzung und die erlittene Demütigung extrem präsent war. Man war gerade erst drei Jahre nach Kriegsende. Niemand in Frankreich wollte damals für Berlin sterben, und die Sowjets hatten das verstanden. Frankreich wurde aufgrund seiner untergeordneten Rolle in der Luftbrücke manchmal nicht einmal in den Reden der UdSSR erwähnt. 

Zum Zeitpunkt der zweiten Berlin-Krise wurde die Konfrontation noch bilateraler in ihrer Darstellung. Dieses Mal war es England, das vergessen wurde, und das Duell beschränkte sich auf die Amerikaner und die Sowjets. Die beiden Blöcke wurden auf den Konflikt der beiden großen Mächte reduziert.

Karkatur von Abramov zur Westberliner Frage

Am Rande dieser Viermächte-Konstellation wurden die deutschen Regierenden in den Besatzungszonen und später in den beiden deutschen Staaten in Reden und Karikaturen als sekundäre Aggressoren oder als Lakaien der Amerikaner bzw. der Sowjets dargestellt. Allerdings gab es einen Unterschied: Moskau und Ost-Berlin prangerten gemeinsam die westlichen Mächte und Westdeutschland an. Im Westen hingegen wurde die Arbeit aufgeteilt: Amerikaner, Briten und Franzosen klagten den sowjetischen Aggressor – Stalin und später Chruschtschow – an und überließen Bonn und West-Berlin die Anklage gegen die SED-Führung, vor allem gegen Ulbricht. Dieser wurde im Sommer 1961, nach dem Bau der Mauer, von Willy Brandt als „Kettenhund der Sowjetunion“ bezeichnet.2

Karikatur von Adenauer als Wilhelm Tell
Karikatur von Lisogorskij von Willy Brandt

Das zeigt die asymmetrische Position der beiden deutschen Staaten auf der internationalen Bühne. Indem sie die DDR nicht erwähnten, manifestierten die drei westlichen Mächte deren Mangel an Legitimität. Der Ostblock sah in der Bundesrepublik seit ihrer Gründung einen Aggressor, denn in der kommunistischen Ideologie wird der Kapitalist bzw. Imperialist irgendwann immer der Gegenseite den Krieg erklären.

 

L. F.: Könnte man dies als eine Vereinfachung bezeichnen, da die Blöcke als einheitlich dargestellt wurden und die europäischen Länder als völlig abhängig betrachtet wurden, oder gab es bereits differenziertere Darstellungen zu dieser Zeit?

Klar, das ist eine reduzierte Darstellung des Kalten Krieges in zwei Blöcken, und sie ist nicht sehr nuanciert. In der Tat gab es auch Spannungen innerhalb jedes Blocks, insbesondere im westlichen Block. Wie ich bereits erwähnt habe, waren die Franzosen während der ersten Berlin-Krise noch nicht mit den Briten und Amerikanern einverstanden, was die Deutschlandpolitik betraf. 

Man kann gut beobachten, wie durch diese Krisen die Rolle der Supermächte – der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten – zunehmend in den Vordergrund rückte. Das ist selbstverständlich eine Verkürzung und Vereinfachung der tatsächlichen Lage, aber genau mit dieser Reduzierung muss die Karikatur arbeiten – das ist fast der Sinn der Sache von Karikatur.

A. E.:  Viele der Bilder zeigen Berlin als eine Stadt, die eindeutig zum Westen gehört, die aber angegriffen wird. Drücken einige der Comics auch eine Sorge über die Ausrichtung Berlins oder Deutschlands auf den sowjetischen Einflussbereich aus?

Das ist eine komplexe Frage. 1948/49 war Berlin noch keine geteilte Stadt, sondern bestand aus vier offenen Sektoren. Zu diesem Zeitpunkt wurde Berlin als Opfer der sowjetischen Aggression betrachtet, die von der SED unterstützt wurde. Die Frage, die sich die Menschen im Westen stellten, war die nach der richtigen Hilfe für Berlin, und die Franzosen zögerten, die ehemalige preußische Stadt und Hauptstadt des „Dritten Reiches“ als Verbündete zu betrachten. 

1958/61 ist die Situation anders. Der Annäherungsprozess ist im Gange, Adenauers Bundesrepublik hat sich klar für die Westbindung entschieden. 1958 unterstützt De Gaulle die Bundesrepublik und West-Berlin während der gesamten Krise voll und ganz. Während es in Frankreich zur Zeit von Willy Brandts Ostpolitik einen Rapallokomplex oder -syndrom gab3, das solche Ängste wiederbelebte, habe ich den Ausdruck des Rapallokomplexes während der beiden Berlinkrisen nicht gesehen. West-Berlin rief den Westen um Hilfe, und in der westlichen Sichtweise war die Bevölkerung Ost-Berlins eindeutig das Opfer der Sowjetunion und des SED-Regimes. 

L. F.: Wie verändert sich der Blick auf Deutschland als Aggressor (und Opfer) im Laufe der Zeit, insbesondere im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus?

1945 teilten die vier Besatzungsmächte den gleichen Standpunkt, dass Deutschland ein Aggressor war, und auch in den Bündnissen und internationalen Abkommen war von Deutschland als Aggressor oder möglichem Aggressor die Rede. Einige Jahre später stellte sich jeder Block Deutschland als ein potenzielles Ziel einer Aggression dar und bezeichnete das andere Deutschland sowie den anderen Block als Aggressor.

Die erste Berlin-Krise war ein Wendepunkt in der Wahrnehmung Deutschlands durch die drei Westmächte und auch für die Franzosen. Es war der Moment, in dem das besiegte Deutschland, zuvor Feind und Täter in der NS-Zeit, zum Opfer und sogar zum Verbündeten im Kampf für die Freiheit wurde. Der französische Verwalter des neuen Flughafens Tegel – der Bau dieses Flughafens war der Beitrag der Franzosen zur Luftbrücke – Charles Corcelle sagte im August 1949: „Ich wünsche mir, dass Berlin, dessen Unglück mich mit dem deutschen Land versöhnt hat, von nun an frei und voll am Leben wird.“4

Später stärkte der Bau der Mauer im Jahr 1961, die von Ost-Berlin und Moskau als „Bollwerk des Friedens“ gerechtfertigt und im Westen als „Mauer der Schande“ bezeichnet wurde, West-Berlin als Symbol für den Westen und die Verteidigung der Freiheit. Es war nicht mehr die Rede von der NS-Zeit, es war eine komplette Umkehrung der Darstellung, und nun war West-Berlin Symbol der Freiheit und des Kampfes für die Freiheit im Kalten Krieg.

Karikatur von Edmund Valtman „I just closed off what's mine“

A. E.: Schließlich, abgesehen von der Darstellung von Aggression während den Berlin-Krisen, sehen Sie bleibende Auswirkungen dieser Darstellungen auf die heutige Wahrnehmung von West- und Ostdeutschland oder sogar im weiteren Sinne innerhalb Europas?

Diese Positionierung zwischen der Verteidigung der Freiheit für die einen und der Verteidigung des Friedens für die anderen stellt immer noch eine Bruchlinie innerhalb der deutschen Gesellschaft dar und vielleicht auch in Europa. Während der Kalte Krieg für junge Menschen ein weit zurückliegendes Ereignis ist, das vielleicht noch durch das Familiengedächtnis weitergegeben wird und vermutlich auch in den Schulen gelehrt wird, hat der Konflikt in der Ukraine die Erinnerung daran stark reaktiviert. Zwar handelt es sich leider nicht um einen kalten Krieg, aber der Diskurs über Aggression und den Aggressor ist nun allgegenwärtig. 2023 brachte der regierende Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner, bei der Gedenkfeier zum 75. Jahrestag der Berliner Blockade und zum 60. Jahrestag der Rede von John F. Kennedy in Berlin dieses Berlin-Narrativ wieder zur Sprache, und ich möchte ihn zitieren: „Berlin ist sich seiner Verantwortung als Stadt der Freiheit bewusst. Denn Berlins Freiheitsgeschichte ist nur ein Erfolg geworden, weil die Westalliierten daran geglaubt und festgehalten haben. Deshalb wird Berlin auch weiterhin immer an der Seite aller freien Städte stehen, die durch Gewalt und Diktatur bedroht sind.“5 Man sieht hier, wie dieses Narrativ wiederbelebt wird und wie es heute in unserer Gesellschaft eine wichtige Rolle spielt.

 

Interviewers: Amr Elashmawy und Lisa Fahrni.

Blog-Design: Vilma Vaskelaitė

 

November 2024

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