Was alle angeht, können nur alle lösen
Facetten des Transfers
Die Pflege von Angehörigen betrifft alle in der Gesellschaft. Insbesondere die Betreuung und Begleitung von Menschen mit Demenz bedürfen einer umfassenden Berücksichtigung von Bedürfnissen, die nicht nur auf Dienstleistungen ausgerichtet ist, sondern einem differenzierten Verständnis sozialer Daseinsvorsorge folgt. Dr. phil. Stefanie Wiloth, Akademische Rätin am Institut für Gerontologie, verbindet seit Beginn ihrer akademischen Laufbahn die Forschungsperspektive mit der Umsetzung zentraler Erkenntnisse in der Praxis bei Themen wie Lebensqualität von Menschen mit Demenz, Qualitätssicherung in Pflegeeinrichtungen oder geriatrischer Rehabilitation.
Ihr Ansatz ist hierbei, über innovative Partizipationsstrukturen nachhaltige Antworten auf die zentralen Zukunftsfragen im Kontext der Globalisierung, Digitalisierung und vor allem des demografischen Wandels zu finden. Denn „was alle angeht, können nur alle lösen“, weiß Dr. Wiloth und zitiert hier Friedrich Dürrenmatt. Ursula Stricker-Ellsiepen von der hei_INNOVATION hat sich mit der transferbegeisterten Forscherin zum Interview getroffen über Projekte, Hintergründe und Wissenstransfer.
Frau Wiloth, ich freue mich sehr, heute dieses Interview mit Ihnen führen zu dürfen. Möchten Sie sich erst einmal vorstellen?
Mein Name ist Stefanie Wiloth. Ich bin aktuell am Institut für Gerontologie Akademische Rätin und Habilitandin. Von Haus aus bin ich Soziologin – ich habe einen Bachelor in Soziologie an der Universität Mannheim und dann den Aufbaustudiengang Gerontologie hier in Heidelberg gemacht. Seitdem beschäftige ich mich in der Forschung, primär im Kontext der Psychiatrie, mit Themen wie Demenzen, Depressionen und andere affektive Störungen und Angststörungen. Ich habe aber auch sehr viel im Bereich Prävention und Rehabilitation gemacht. Nach dem Diplom habe ich im Bethanien-Krankenhaus in Heidelberg gearbeitet, habe zusammen mit Sportwissenschaftlern klinische Forschung betrieben und viel zu Therapieprogrammen für Menschen mit Demenz und Schlaganfallpatienten geforscht.
Das ist ein ganz spannender Punkt, wenn wir später über Transfer sprechen, weil natürlich die klinische Gerontologie eine völlig andere ist, als die soziale Gerontologie oder auch die Pflegewissenschaft. Ich habe promoviert und war an großen klinische Studien beteiligt. In diesem Kontext ging es auch um Therapieangebote, die ich mitentwickelt und evaluiert habe. Diese Angebote sollten auch in die Praxis transferiert werden, zumindest in den klinischen Kontext und das ist wirklich gut gelungen. Schön war im Nachhinein von ehemaligen Kollegen zu hören: „Das Trainingsgerät, das du evaluiert hast, das verwenden wir in unserer Tagesklinik. Es funktioniert und wird toll angenommen.“
In den letzten Zügen meiner Promotion bin ich ans Diakoniewissenschaftliche Institut der Universität Heidelberg gewechselt, weil ich mich sehr stark für kommunale offene Altenarbeit interessiert habe. In einem Reallabor haben wir Stadtentwicklungsprozesse mitbegleitet – da ging es um Barrierefreiheit im städtischen Raum und um Potenzial von Mehrgenerationenhäusern: Wie sollen sie architektonisch aussehen? Wie sollen sie gestaltet werden? Und dann kam ein, in Anführungszeichen, „Ruf“ von Herrn Professor Kruse, bei dem ich studiert hatte. „Wollen Sie nicht wieder zurück ans Institut kommen? Es gibt hier ein Projekt namens H.I.L.DE.“ Das kannte ich als sehr wichtiges Instrument für die Pflege, auch für die stationäre Pflege; ich habe sofort zugesagt und bin so seit 2017 vornehmlich im pflegewissenschaftlichen Kontext tätig. Ich bin also gar nicht mehr so sehr klinische Gerontologin, sondern eher eine gerontologische Soziologin und habilitiere hier aktuell – auch im Rahmen des Town Hall-Projekts, das Prof. Kruse und ich ins Leben gerufen hatten, um pflegenden Angehörigen eine Stimme zu geben. Das Projekt funktionierte sehr stark auch über eine kommunale Orientierung, weil wir gleichzeitig das Thema Daseinsvorsorge stark machen wollten. Wie können Versorgungsstrukturen für Angehörige optimiert werden - weg von top down, hin zu bottom up? Fokus war hier die Partizipation von Angehörigen und sie zu aktivieren und mitsprechen zu lassen, wenn es um die Optimierung von Prozessen der Daseinsversorgung geht.
Das ist toll! Können Sie uns ein aktuelles ihrer Transfer-Projekte näher beschreiben?
Wir haben auf Basis unserer Erkenntnisse aus dem Town Hall-Projekt festgestellt, dass Rathausgespräche als Methode, als Instrument, ein großes Potenzial haben, so aber vielleicht noch nicht ganz ausgereift sind. Gemeinsam mit meiner Kollegin Frau Dr. Monika Obermeier aus der Philosophie habe ich deshalb ein darauf aufbauendes Instrument entwickelt, nämlich Re-SPEKT, übersetzt, „REgional SPrechen, ERKennen und Tätig sein“. Es geht uns darum, zu zeigen, dass Bürgerbeteiligung und Partizipation nicht nur ein Thema für kranke Menschen ist, für Angehörige, für Betroffene, sondern auch darum, dass Bürgerbeteiligung für alle zivilgesellschaftlichen Akteure wieder einen höheren Stellenwert einnehmen sollte. Demokratie wird heute anders verstanden, als früher. Wir möchten die Rathausgespräche transferieren auf eine regionale Ebene und sie als Beteiligungsinstrument stark machen. Der Verband Metropolregion Rhein-Neckar war sofort dabei und wenn die Idee gut funktioniert und angenommen wird – sei es von Bürgerinnen und Bürgern, aber auch von der Politik und Landespolitik, von der Regionalverwaltung oder anderen Akteuren – dann soll das Format künftig größer vermarktet werden. Der Verband kümmert sich um die Implementierung und wir begleiten das Ganze als Wissenschaftler. Die Metropolregion erhalt dazu von uns ein Manual, wo genau aufgeführt ist, wie die Gespräche und Foren funktionieren können und was zu tun ist. Gleichzeitig schauen wir uns die damit verbundenen Fragen, Erfolgskriterien und weitere interessante Aspekte aus der Forschungsperspektive an.
Können Sie in diesem Kontext auf die Transferkomponenten oder Transferaspekten noch ein wenig näher eingehen?
Die Transferkomponente ist in erster Linie erst einmal Wissen - das RE-SPEKT-Beteiligungsinstrument basiert auf Wissen. Die Gesprächselemente, die da implementiert und evaluiert werden, basieren auf Ergebnissen des Town Hall Projektes. Das ist nicht theoriengeleitet, niemand hat sich da etwas was ausgedacht; wir haben da „Evidenzen“. Wir transferieren also unser Wissen in die Region, in die Praxis und möchten gleichzeitig mit der Praxis gemeinsam etwas daraus machen. Das ist etwas Anderes und Praktischeres, als zu sagen „Transfer ist: Ich schreibe eine Publikation. Wenn es dich interessiert, lies es doch und mach was draus". Das reicht uns nicht. Bis zu welchem Grad wir das machen können, werden wir sehen.
Wunderbar. Was bedeutet Transfer für Sie persönlich?
Ich unterscheide persönlich zwischen Wissenschaftskommunikation und Transfer. Viele sagen, dass Wissenschaftskommunikation über Publikationen funktioniert. Ob aber ein Seniorenbüro in Dossenheim oder Kirchheim unsere Publikation liest, wage ich zu bezweifeln. Wenn wir ganz ehrlich sind, werden auch Projektberichte nicht gelesen, weil sie einfach viel zu komplex sind. Die Sprache ist zu komplex; wenn es eine quantitative Arbeit ist, wird mit Daten jongliert. Das versteht kein Mensch. Die Frage ist also, ob wir einen Schritt weitergehen müssen und das so übersetzen, dass man es versteht? Ist das unsere Aufgabe? Transfer ist für mich, dass es gelingt, dass etwas weiterläuft und sich dabei etwas entwickelt. Wir Wissenschaftler haben eine andere Sprache als die Praxispartner und als die Politik. Ich bin davon überzeugt, dass Transfer und/oder Wissenschaftskommunikation, was auch immer man sich zum Ziel setzt, dann gelingt, wenn die Praxispartner von vornherein schon bei der Forschungsantragsstellung mit dabei sind, ob in einem Beirat, oder mitforschend oder in einer Feedbackfunktion. Das ist ja dann je nach Projekt ganz unterschiedlich.
Haben Sie einen Tipp für andere Mitglieder der Universität, die sich für das Thema Transfer und Innovation interessieren?
Ich habe sogar zwei Tipps. Einen habe ich eben gerade schon genannt, die Einbindung von Praxispartnern und das so früh wie möglich. Mein zweiter Tipp wäre, den Transfer schon bei Antragsstellung mitzudenken. Ich glaube, dass Projekte in Zukunft eher gefördert werden, wenn der Transferaspekt mitgedacht ist und Budget für Publikationen und Transfer-Events eingeplant wird. Wir selbst haben im Town Hall-Projekt ein großes Abschlussevent gemacht. Dafür braucht man Geld. Es ist müßig, immer über Finanzen sprechen zu müssen, aber ich habe den Eindruck, dass das auch im Bereich Transfer eine wichtige Komponente ist.