Ruperto Carola Ringvorlesung The structure of freedom and the structure of responsibility
Navigating the relations between science and politics
4. November 2024
„Wer aus dem Reistopf staatlicher Förderung isst, sollte den Topf nicht zerbrechen“. So rechtfertigen die chinesische Regierung und Teile der chinesischen Bevölkerung die Vorgabe, dass aus öffentlichen Mitteln bezahlte Wissenschaftler den Staat nicht kritisieren sollten. Die Reistopf-Analogie gilt in abgewandelter Form auch für Deutschland: „Warum sollten deutsche Steuerzahler für Projekte zahlen, die bei der deutschen Bevölkerung für Unwillen sorgen?“ Daraus ergibt sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen akademischer Freiheit und öffentlicher Verantwortung. Sollte die Universität ein Ort der freien Rede sein oder ein Ort, der den „öffentlichen Willen“ schützt? Gestützt auf anthropologische Erkenntnisse aus meiner Forschung in China und Indien und basierend auf meiner Beobachtung aktueller Debatten in Deutschland stelle ich die These auf, dass Freiheit und Verantwortung miteinander vereinbar sind, sofern sie je nach Größenordnung differenziert gehandhabt werden. Die Meinungsfreiheit ist nicht auf große Institutionen wie Universitäten anwendbar; diese sollten sich nach Möglichkeit mit politischen Stellungnahmen zurückhalten. Sie müssen jedoch Verantwortung für den Schutz der Denk- und Meinungsfreiheit des Individuums übernehmen, selbst wenn diese damit in Teilen der Öffentlichkeit auf Unverständnis stoßen. Gleichzeitig sollten Einzelpersonen innerhalb des geltenden Rechts alle Freiheiten genießen und nicht angehalten werden, einem imaginären „öffentlichen Willen“ Rechnung zu tragen – ein Begriff, der im Kontext der Internationalisierung ohnehin problematisch ist. In dieser strukturellen Betrachtungsweise von Freiheit und Verantwortung ist die Autonomie von kleinen Kollektiven wie Forschungsteams, Fakultäten und Studentenschaften von höchster Bedeutung.
XIANG BIAO
Xiang Biao, in China geboren und aufgewachsen, hat sich mit Migration und sozialen Veränderungen in China, Indien und anderen Teilen Asiens beschäftigt. Derzeit ist er Direktor des Max-Planck-Instituts für Ethnologische Forschung in Halle. Gegenwärtig untersucht Xiang die vielfältigen Auswirkungen von Mobilität und Immobilität auf Gesellschaften und Individuen, die während der COVID-19-Pandemie hervorgetreten sind. Darüber hinaus analysiert er soziale Debatten in China, die Praktiken der Sozialforschung im Globalen Süden und neue Muster wirtschaftlicher Zirkulation.
Guido Sprenger
Guido Sprenger lehrt seit 2010 am Institut für Ethnologie der Universität Heidelberg, zuvor war er an der Academia Sinica in Taipeh und an der Universität Münster tätig. Seit 2000 forscht er im Hochland von Laos. Seine Forschungsinteressen umfassen Rituale, Austausch, Mensch-Umwelt-Beziehungen, Animismus und Gesellschaft als Zukunftsprojekt.