Hans Jochen Diesfeld Der Wegbereiter

Hans Jochen Diesfeld entwickelte die Heidelberger Tropenmedizin zur „Globalen Medizin“ weiter

Hans Jochen Diesfeld mit seiner Frau Inge

Dass er Mediziner werden wollte, wurde Hans Jochen Diesfeld bereits während seiner Kindheit im Zweiten Weltkrieg klar: Schon als Zehnjähriger begleitete der heute 91-Jährige seinen Onkel, einen bekannten Arzt in Starnberg, bei Patientenbesuchen, half gelegentlich in seiner Sprechstunde und absolvierte einen Sanitätslehrgang beim „Jungvolk“. Den letzten Anstoß gab 1944 ein Erste-Hilfe-Einsatz nach einem Luftangriff auf die Starnberger Feuerwehrstation, so dass er ab 1946 regelmäßig im Jugendrotkreuz im Einsatz war. Eine eigene Pockenerkrankung führte ihn dann in die Tropenmedizin und schließlich 1966 an die Universität Heidelberg, wo er mehr als 20 Jahre als Ärztlicher Direktor die Abteilung Tropenhygiene und Öffentliches Gesundheitswesen leitete – und deren Entwicklung zum heutigen Heidelberg Institute of Global Health (HIGH) auf den Weg brachte. 

Noch vor wenigen Jahrzehnten sei es der Anspruch des Globalen Nordens gewesen, aus einer politischen und ökonomischen Machtposition heraus die Geschicke anderer Nationen und Menschen zu bestimmen, schreibt Oliver Razum, Dekan der Fakultät für Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld und langjähriger Heidelberger Mitarbeiter Diesfelds, im Vorwort eines 2023 erschienenen Buchs, in dem Diesfeld über seinen beruflichen Weg schreibt. Diese von kolonialem Denken bestimmte Haltung habe auch vor der Wissenschaft nicht haltgemacht. „Dass hier ein Änderungsprozess eingesetzt hat, weg von einer ‚Tropenmedizin‘ und hin zur Perspektive einer Globalen Gesundheit einschließlich einer Gesundheitsversorgung, die Chancengleichheit in den Vordergrund stellt, das ist zu einem erheblichen Teil denjenigen Menschen zu verdanken, die auf diesem Weg vorangegangen sind. Hans Jochen Diesfeld ist einer von ihnen“, betont Oliver Razum.

Dabei war es ein Zufall, der Hans Jochen Diesfeld zunächst als Arzt nach Afrika und langfristig in den Bereich Global Public Health führte: Während seiner internistischen Ausbildung am Städtischen Krankenhaus Ansbach schleppte an Ostern 1961 ein aus Indien heimgekehrter Missionar Pocken ein. Diesfeld arbeitete im „Seuchenlazarett“, steckte sich trotz eines Pocken-Impfboosters an und erkrankte selbst. „Mir stellte sich anschließend die Frage, ob ich mich weiter mit dieser Krankheit befassen wollte“, erzählt er. „Die Gelegenheit dazu bekam ich, als ich das Angebot annahm, von 1963 bis 1965 als Internist am Haile Selassie I Hospital in Addis Ababa in Äthiopien zu arbeiten. Dort eröffnete sich mir eine neue Welt, in der es sehr viel zu lernen gab, weit über das damals noch eurozentrisch definierte Fach Tropenmedizin hinaus.“

Weil er diesen Weg weitergehen wollte, absolvierte Hans Jochen Diesfeld 1965/66 mit einem WHO-Stipendium den internationalen Diplomkurs „Tropical Public Health“ an der London School of Hygiene and Tropical Medicine. Anschließend bekam er eine Assistentenstelle an der damals dem Südasien-Institut (SAI) angegliederten Abteilung für Tropenhygiene und Öffentliches Gesundheitswesen der Universität Heidelberg angeboten, die er Ende 1966 antrat. 1969 habilitierte er sich, und ab 1976 war er bis zu seiner Emeritierung 1997 Ärztlicher Direktor der Abteilung, die 1995 Teil der Medizinischen Fakultät und des Universitätsklinikums Heidelberg wurde. 

In dieser Zeit entwickelte Hans Jochen Diesfeld anstelle der eurozentrischen Tropenmedizin eine Global-Health-Perspektive: „Wir hatten in Heidelberg in dem damals sehr interdisziplinär angelegten Konzept des Südasien-Instituts ein Problembewusstsein, dass Gesundheit und Krankheit eine sehr breite Basis haben und dass dies für Entwicklungshelfer wie auch Studenten aus Entwicklungsländern wichtige Erkenntnisse bringt.“ Als Folge weitete die Abteilung die Klinische Medizin auf den Bereich Gesundheit und Gesundheitssystem aus und richtete den Fokus auch auf ökonomische und gesundheitliche Ungleichheiten. Dazu gehörte auch, den Schwerpunkt auf Ausbildung und Lehre zu legen, die nicht nur Menschen aus Europa zugänglich sein sollten, sondern auch Fachkräften aus dem Globalen Süden. 

Wir hatten in Heidelberg ein Problembewusstsein, dass Gesundheit und Krankheit eine sehr breite Basis haben.

Hans Jochen Diesfeld

Aufbauend auf seinen Erfahrungen während beruflicher Einsätze in Afrika und Indien entwickelte Hans Jochen Diesfeld daher ab 1969 gemeinsam mit seinen Mitarbeiter:innen Vorbereitungsprogramme für deutsche Entwicklungshelfer:innen und für Medizinstudierende aus Entwicklungsländern, die sie mit den Problemen und Prioritäten der Gesundheitsversorgung in diesen Ländern bekannt machten. „Es gab großen Bedarf an einer breiter aufgestellten Betrachtung von Gesundheit und Krankheit nicht nur in ihrem geographischen, sondern auch in ihrem sozioökonomischen, kulturellen und politischen Rahmen.“ Im Herbst 1990 startete, zunächst als Modellversuch, der englischsprachige Masterstudiengang „Community Health and Health Management in Developing Countries” – zuvor gab es solche Angebote nur im Ausland. Rund 400 Absolvent:innen zählte das erfolgreiche Programm in mehr als 20 Jahren, später wurde es ausgebaut und aktualisiert und wird heute am HIGH als „Master of Science in International Health“ angeboten. Hans Jochen Diesfelds Wegbegleiter und Freund Andreas Ruppel, der lange Jahre die Lehre am Institut leitete und 2021 verstarb, organisierte über viele Jahre und noch im Ruhestand zahlreiche Alumni-Sommerschulen, die immer großen Anklang fanden – die HAI-Gruppe „Alumni Global Health“ zählt denn auch aktuell mehr als 200 Mitglieder aus über 60 Ländern. 

Der Masterstudiengang-Jahrgang 1994/95

1996 erklärte Hans Jochen Diesfeld im Forschungsmagazin „Ruperto Carola“ das Charakteristische des Studiengangs – das zugleich seinen persönlichen Ansatz beschreibt: „Wir versuchen, das Gesundheitssystem durch das Auge der Bevölkerung zu sehen, es im Spiegel der Bevölkerung zu analysieren, während andere Kurse das System als solches analysieren. Gesundheitsberufe neigen dazu, zu sagen, ‚ich weiß schon, was dir fehlt, zeig' mir mal die Zunge‘, und das ist genau das, was dann oft in die falsche Richtung führt. Wir fragen hingegen die Leute selbst, wo sie das Problem sehen, das ist unser Markenzeichen.“ Und so zieht der 91-Jährige, der seit seiner Emeritierung mit seiner Frau wieder in Starnberg lebt, heute auch ein negatives Fazit der internationalen Entwicklungspolitik: Diese sei „vielfach nur ein Feigenblatt, hinter dem sich nach wie vor partikulare und globale Interessen verbergen. Am tatsächlichen Schaffen von Mehrwert in den Ländern des Globalen Südens beim Aufbau von Wirtschaftskraft gibt es in einem quasi neokolonialen Weltwirtschaftssystem wenig Interesse“. 

(erschienen 2023)

Der Masterstudiengang-Jahrgang 1995/96

Literaturhinweis

Hans Jochen Diesfeld: Von „Tropenmedizin“ zu „Global Public Health“. Die politische Dimension ärztlichen Handelns: biographische und bibliographische Anmerkungen 1962 bis 2022 (Challenges in Public Health, Band 67)