Mridul Agrawal Medizin am Puls der Forschung
Heidelberger Alumnus revolutioniert Zugang zu Krebstherapie

Ein Dreijähriger sitzt im Cockpit eines Rettungshubschraubers, auf seinem Kopf ein übergroßes Headset. Die Begeisterung ist dem Kind ins Gesicht geschrieben. Dieses Bild fängt die frühe Faszination von Mridul Agrawal für den Arztberuf ein. Heute, rund vier Jahrzehnte später, hat der Mediziner, Wissenschaftler und Unternehmer seine kindliche Begeisterung in eine innovative Karriere umgemünzt: Als Mitgründer und Geschäftsführer des Start-ups »iuvando Health« verhilft er Krebspatient:innen zu lebensrettenden Behandlungen, zu denen sie ansonsten keinen Zugang hätten. Den Grundstein für den beruflichen Weg haben sein Studium und seine Promotion an der Universität Heidelberg gelegt.
Die medizinischen Wurzeln in Mridul Agrawals Familie reichen tief. Geboren in Berlin, wächst er in einem Umfeld auf, in dem der Arztberuf allgegenwärtig ist. Sein Urgroßvater, sein Vater und sein Onkel, alle drei Ärzte, prägen seine frühen Eindrücke vom medizinischen Alltag. »Der Arztberuf war bei uns am Esstisch immer präsent«, erinnert sich Agrawal. Dieser familiäre Einfluss ist jedoch kein Zwang, sondern vielmehr eine »Langzeitbelichtung«, wie er es selbst beschreibt, die ihm ein konkretes Bild davon vermittelte, was es bedeutet, Arzt zu sein. Ganz besonders in Erinnerung geblieben sind die Momente, in denen der junge Mridul seinen Vater nach dessen Dienst als Rettungsmediziner an der Charité abholte. »Das war wie ein wahr gewordener Traum. Mein Vater hat mir den Rettungswagen und -hubschrauber gezeigt und einmal durfte ich sogar beim Feierabendflug in den Hangar mitfliegen.«
Trotz dieser frühen Eindrücke ist Agrawals Weg in die Medizin keineswegs vorgezeichnet. Nach dem Abitur steht er vor der Wahl zwischen Medizin, Betriebswirtschaftslehre und Jura. Doch die Faszination für die Medizin gewinnt schließlich die Oberhand. 2006 beginnt er sein Studium an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg – eine Entscheidung, die sich als Glücksfall erweist. Ein neuer Modellstudiengang an der Fakultät bietet Agrawal die Möglichkeit, seine vielfältigen Interessen im Hauptstudium zu vereinen: Zusätzlich zum Medizinstudium kann er einen Master in Gesundheitsökonomie absolvieren und damit seine Leidenschaft für den Arztberuf, seine Affinität zu quantitativen Fächern und sein Interesse an systemischen Zusammenhängen im Gesundheitswesen vereinen. Medizinisch kristallisiert sich für ihn früh die Onkologie als das Fachgebiet heraus, das seinem Idealbild des Arztberufs entspricht. »Die Onkologie sieht den Menschen holistisch«, betont er. »Sie gibt mir die Möglichkeit, Patienten in schwierigen Lebenssituationen über längere Zeit zu begleiten und zugleich an der Spitze der medizinischen Forschung zu arbeiten.«
Die Onkologie gibt mir die Möglichkeit, Patienten in schwierigen Lebenssituationen über längere Zeit zu begleiten und zugleich an der Spitze der medizinischen Forschung zu arbeiten.
Mridul Agrawal

Doch wie wird aus dem Arzt und Wissenschaftler ein Unternehmer, der noch dazu 2024 vom deutschen Startup-Verband als »Impact Entrepreneur« des Jahres ausgezeichnet wird? Von Heidelberg aus führt Agrawals Weg über Ulm an das Dana-Farber Cancer Institute der Harvard Medical School. Diese Erfahrung an der Schnittstelle von klinischer Praxis und Grundlagenforschung in einem hochinnovativen Umfeld öffnet ihm die Augen für ein systemisches Versorgungsproblem. Die Teilnahme an einer klinischen Studie bietet für Krebspatient:innen die Chance, von neuen Behandlungsmöglichkeiten zu profitieren. Ob sie Zugang zu einer für sie passenden Studie haben, ist aber reine Glückssache, und hängt schlicht davon ab, ob sie zufällig beim richtigen Arzt beziehungsweise im richtigen Krankenhaus landen.
»Ich hatte dieses Problem schon in Deutschland beobachtet. In Boston aber, wo vier große krebsbehandelnde Krankenhäuser im Umkreis von 15 Fahrradminuten liegen und trotzdem jedes Haus seinen Patienten nur die ›eigenen‹ Studien anbietet, ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen.« Gemeinsam mit dem Betreuer seiner Doktorarbeit, dem Heidelberger Mediziner Benjamin Hanfstein, reift in ihm die Idee zu einem innovativen Start-up. Die Vision der beiden: Sie wollen Krebspatient:innen zu einer optimalen Behandlung verhelfen – und die Medizin demokratisieren. 2019 gründen sie aus eigenen Mitteln »iuvando Health«. Mit seinen fortschrittlichen Matching-Algorithmen fungiert das Unternehmen als Lotse und bietet Hilfesuchenden maßgeschneiderte Übersichten zu den existierenden Arzneimittelstudien an.
Agrawal und sein Team, das inzwischen auf über 20 Mitarbeiter:innen angewachsen ist, beraten jede Patientin und jeden Patienten persönlich. Mehrere Tausend Anfragen haben die Plattform im vergangenen Jahr erreicht. Die Zahl für 2024 wird nochmal deutlich höher ausfallen. Ein gelungenes Matching kommt dabei nicht nur den Erkrankten zugute, sondern beschleunigt auch die Medikamentenentwicklung der forschenden Arzneimittelunternehmen.
Obwohl die unternehmerischen Aufgaben inzwischen überwiegen, ist es Mridul Agrawal wichtig, weiterhin Kontakt zu den Patientinnen und Patienten zu haben. »Ich schaufele mir bewusst Zeit hierfür frei und bin sehr dankbar, Arzt sein zu dürfen.« Diese Dankbarkeit sei wahrscheinlich Teil seines kulturellen Erbes, so der Sohn indischer Eltern. »In Indien wird der Arztberuf insbesondere deshalb so wertgeschätzt, weil er beinhaltet, anderen Menschen dienen zu dürfen.« Am Unternehmertum reizt ihn hingegen vor allem die intellektuelle Herausforderung. Ein Produkt zu entwickeln, das auf einer wirtschaftlich nachhaltigen Basis ein Problem adressiert und einen gesellschaftlichen Mehrwert schafft, vergleicht er mit einem wissenschaftlichen Experiment: »Ich muss die richtigen Fragen stellen, Hypothesen aufstellen und diese überprüfen. Liege ich falsch, muss ich meine Hypothesen oder auch die Fragen anpassen – und das in einem iterativen Prozess.«
Ich muss die richtigen Fragen stellen, Hypothesen aufstellen und diese überprüfen
Mridul Agrawal
Als nächstes Experiment wird Agrawal nun mit »iuvando Health« den Schritt in den US-amerikanischen Markt wagen. Als weltweit führendes Land in der Realisierung klinischer Studien bieten die USA ein enormes Potenzial für seinen Ansatz. Rückblickend auf seine Studienzeit muss er insbesondere an einen emotional bewegenden Moment während der Examensfeier denken, in dem ihm bewusst wurde, dass der Abschluss des Studiums nur ein vermeintliches Ende bedeutete: »Jetzt geht das Lernen erst richtig los.« Womöglich sind es diese Eigenschaften – die Demut und das Wissen, nie ausgelernt zu haben, gepaart mit der Haltung, den Status quo nie als gegeben hinzunehmen –, die Mridul Agrawal so erfolgreich machen.