Marsilius von Inghen Ein heller Stern am Firmament der Wissenschaft

Marsilius von Inghen – der erste Alumnus

Im Jahr 2007 rief die Universität Heidelberg als einen zentralen Baustein ihres Zukunftskonzepts im Rahmen des Exzellenzwettbewerbs von Bund und Ländern das Marsilius-Kolleg als „Center for Advanced Study“ ins Leben – einen Ort der Begegnung und der Innovation, an dem jährlich Wissenschaftler*innen der Universität als Marsilius-Fellows disziplinenübergreifende Forschungsprojekte initiieren und umsetzen. Seit 2016 hat das Kolleg sein Domizil in den Marsilius-Arkaden auf dem Campus Im Neuenheimer Feld. Namensgeber ist der Gründungsrektor der Universität Heidelberg, der zu seiner Zeit hochgerühmte mittelalterliche Gelehrte Marsilius von Inghen. Im Jahr 1396 starb dieser erste Alumnus der Ruperto Carola, dessen Namen seit 1931 auch der Platz zwischen Neuer Universität und Jesuitenkirche trägt.

Marsilius von Inghen

„In der Wissenschaft des Spätmittelalters leuchtet Marsilius als heller Stern am Firmament der Artes“, erklärt die Historikerin Dr. Heike Hawicks. Der Gelehrte, der vor Gründung der Universität Heidelberg bereits Rektor der Universität von Paris war, machte sich vor allem auf dem Gebiet der Logik und der theoretischen Philosophie einen Namen, beschäftigte sich aber auch mit Theologie, Jurisprudenz, Medizin und Metaphysik ebenso wie mit Mathematik, Grammatik, Moral- und Naturwissenschaften und legte auch Schriften zur Kirchenpolitik vor. Anlässlich seines 625. Todestags präsentierte Heike Hawicks, Lehrbeauftragte am Historischen Seminar und Vorsitzende des „Freundeskreises für Archiv und Museum der Universität Heidelberg e.V.“, in einem Online-Vortrag im Rahmen des HAI-Jubiläumsprogramms neue Forschungserkenntnisse. Die Erträge des Vortrags und einer Ausstellung sollten im März 2022 als Publikation erscheinen.

Die Marsilius-Arkaden, Sitz des Marsilius-Kollegs

In den 1330er-Jahre bei Nijmegen in den heutigen Niederlanden geboren, absolvierte Marsilius von Inghen seine Ausbildung an der Universität Paris. Seit etwa 1360 studierte er dort, der erste Beleg findet sich für den 27. September 1362, als er seine Inauguralvorlesung als Magister Artium hielt und von da an an der Artes-Fakultät lehrte. Er leitete mehrmals als Prokurator die „Nation Anglicana“ ­– eine Untergliederung der Fakultät, der die Lehrenden und Studierenden mehrerer Länder, darunter auch Deutschland, angehörten – und war 1367 und 1371 Universitätsrektor; von 1366 an studierte er zudem an der Theologischen Fakultät. Als Sonderbeauftragter vertrat Marsilius die Universität Paris 1369 bei der päpstlichen Kurie in Avignon und 1377/1378 in Rom, wo er sich auch aufhielt, als Urban VI. 1378 zum Nachfolger von Papst Gregor XI. gewählt wurde. Als im Herbst 1378 das Kardinalskolleg Clemens VII. zum Gegenpapst wählte, begann das Große Abendländische Schisma, das das christliche Europa 40 Jahre lang mit konkurrierenden Papstansprüchen zwischen Rom und Avignon spaltete. Seiner Sorge über die sich abzeichnenden Vorgänge gab Marsilius bereits im Sommer 1378 in einem Brief Ausdruck.

Ab dann verliert sich zunächst seine Spur in den Quellen, bevor sie Mitte des Jahres 1386 wieder auftaucht: Kurfürst Ruprecht I. teilte mit, dass er Marsilius zu seinem „Pfaffen gewonnen“ und als „anheber und regirer“ der geplanten Universität in Heidelberg bestimmt habe, die mit Genehmigung der römischen Kurie nach dem Vorbild von Paris geschaffen werden sollte. Nachdem am 1. Oktober 1386 fünf kurfürstliche Gründungsprivilegien erlassen worden waren und am 18. Oktober die Universität eröffnet worden war, wurde am 17. November Marsilius zum ersten Rektor gewählt. Er sorgte für Matrikel, das Amtsbuch des Rektors, Statuten und eine Archivtruhe und veranlasste die Herstellung von Universitäts- und Rektorsiegel sowie eines vergoldeten Universitätszepters. Neben seiner Lehrtätigkeit setzte er ab 1393 auch sein Theologiestudium fort und erwarb im Studienjahr 1395/96 kurz vor seinem Tod als erster an der Universität Heidelberg den Grad eines Doktors der Theologie.

„Im Jahre 1396 am 20. August, dem Tag des Heiligen Bernhard (von Clairvaux), starb der ehrwürdige Mann Magister Marsilius von Inghen, Kanoniker und Thesaurar des St. Andreas-Stifts in Köln, der Gründer und Anheber dieser unserer Universität, ein hervorragender Doktor der Heiligen Theologie, der hier (in Heidelberg) als erster promoviert worden ist. Er hat unserer Universität zahlreiche Handschriften theologischen und philosophischen Inhalts zusammen mit anderen Wertsachen vermacht. Er war Rektor und ist in der Peterskirche im Chor vor dem Hauptaltar begraben. Seine Seele ruhe in Frieden.“ Diese Passage im Amtsbuch des Rektors ließ Marsilius’ Nachfolger Johann van de Noet notieren. Marsilius von Inghen prägte nicht nur die Anfänge der Ruperto Carola, sondern hinterließ auch in der Wissenschaft bedeutende Spuren: Seine nach ihm „Via Marsiliana“ benannte philosophische Denkrichtung beeinflusste viele Wissenschaftsgenerationen, seine Werke fanden an europäischen Universitäten Verbreitung und wurden vielfach kommentiert. Mehr als ein Jahrhundert lang feierte die Universität Heidelberg jährlich Gedenkmessen für ihren Gründungsrektor, der bis zu seinem Tod neunmal das Rektorat übernahm und dessen der Universität vermachte Bibliothek zum Grundstock der Bibliotheca Palatina gehörte.

Was aber verschlug Marsilius von der Metropole Paris in die damals etwa 4.000 Einwohner zählende kleine Residenzstadt Heidelberg? Neu herangezogene Dokumente bringen Licht in das bisherige Dunkel der Jahre zwischen Marsilius’ Pariser und Heidelberger Zeit, wie Heike Hawicks erläutert. Neben päpstlichen Pfründen, auf die Universitätsangehörige als Einkommen angewiesen waren, spielen dabei vor allem verwandtschaftliche Beziehungen und Netzwerke eine Rolle. Dass Marsilius nicht mehr nach Paris zurückkehrte, liegt darin begründet, dass er Urbanist und damit Anhänger des römischen Papstes blieb, während Frankreich und die Universität Paris auf Seiten des in Avignon residierenden Clemens VII. standen. Marsilius hielt sich daher zunächst bei seinen Pfründen in den Niederrheinlanden auf, die ihm der Gegenpapst zum Teil erfolglos zu entziehen versuchte.

Dass er von dort schließlich Mitte der 1380er-Jahre nach Heidelberg ging, lässt sich den neuen Erkenntnissen zufolge mit den verwandtschaftlichen Beziehungen der Wittelsbacher erklären, in deren Mittelpunkt Anna von Bayern stand: Die Großnichte von Universitätsstifter Kurfürst Ruprecht I. hatte in eines der großen niederrheinischen Grafenhäuser eingeheiratet, ihr Sohn unterhielt beste Kontakte zur römischen Kurie. Nicht nur Anna und ihr Gatte Wilhelm von Berg in den Niederrheinlanden waren wie Marsilius dem römischen Papsttum Urbans VI. verbunden, sondern auch Kurfürst Ruprecht I. von der Pfalz. Dieser heiratete schließlich als 76-jähriger Witwer Annas und Wilhelms 25-jährige Tochter Beatrix – die Enkelin seines eigenen Neffen –, was wohl nicht zufällig zu der Zeit geschah, in der Marsilius seinen Weg nach Heidelberg fand. „Zur Gründungszeit der Universität Heidelberg waren somit die Verbindungen der Kurpfalz zum Niederrhein wie zur päpstlichen Kurie eng und Marsilius offenbar eine Schlüsselfigur in diesem komplexen Beziehungsgeflecht“, erklärt Heike Hawicks.

Literaturhinweis

Heike Hawicks / Harald Berger: Marsilius von Inghen und die Niederrheinlande. Zum 625. Todestag des Gründungsrektors der Heidelberger Universität (Beiträge zur Geschichte der Kurpfalz und der Universität Heidelberg 1), Heidelberg 2022.