Winfried Hassemer „Heidelberg war für mich ein Traum“
Der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Winfried Hassemer, begann an der Ruperto Carola sein Jurastudium
Winfried Hassemer wurde 1940 im rheinhessischen Gau-Algesheim geboren und studierte in Heidelberg vom Sommersemester 1959 an drei Semester Jura. Nach weiteren Stationen an den Universitäten Genf und Saarbrücken wurde er 1967 promoviert und 1972 habilitiert. Seine berufliche Laufbahn begann Hassemer 1964 als Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Saarbrücken. 1970 wechselte er an die Ludwig-Maximilians-Universität in München, bevor er 1973 Professor für Rechtstheorie, Rechtssoziologie, Strafrecht und Strafverfahrensrecht an der Goethe-Universität in Frankfurt/Main wurde. Von 1991 bis 1996 war Hassemer Datenschutzbeauftragter des Landes Hessen. Im Mai 1996 wählte der Bundesrat ihn als Richter in den Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts, 2002 wurde er Vorsitzender des Zweiten Senats und Vizepräsident des Gerichts, aus dem er 2008 nach Ablauf seiner Amtszeit ausschied. Danach arbeitete er als Anwalt und war unter anderem „Ombudsman“ bei der Schufa und „Neutraler Mittler“ bei Daimler.
Das Interview wurde im März 2013 geführt. Im Januar 2014 starb Winfried Hassemer nach schwerer Krankheit.
Herr Hassemer, warum haben Sie sich nach der Schulzeit für ein Jurastudium entschieden?
Ich bin einer der vielen, die Jura zuerst einmal aus negativen Gründen studiert haben: Ich hätte gerne Politologie, Soziologie, Philosophie studiert, da war mir aber die Wahrscheinlichkeit zu hoch, dass ich später als Lehrer ende. Bei Naturwissenschaften war ich der festen Meinung, dass ich zu dumm dazu bin. Und Medizin wollte ich nicht. Es gibt aber auch einen anderen Grund: Mein Vater wurde 1933 knapp drei Wochen im KZ Osthofen festgehalten und hat anschließend bis 1945 keine Anstellung außer beim Reichsarbeitsdienst gefunden. Er war der erste in der Familie, der Abitur hatte, aber er durfte nicht studieren, und er hätte gerne Jura studiert. Das hat er seinen drei Söhnen auf seine etwas subtile Weise vermittelt, und alle drei sind dann ohne jeden Zwang diesen Weg gegangen. Mein Bruder Volker, der seit langer Zeit in Berlin Politik macht, hat beim selben Professor promoviert wie ich, und mein Bruder Raimund hat ebenfalls im Strafrecht promoviert – das ist schon eine merkwürdige Geschichte.
Wussten Sie denn zu Studienbeginn schon, was Sie später als Jurist machen wollten?
Nein, ich hatte keine Ahnung, als ich mit Jura anfing, was das eigentlich ist – und bin sicher, das geht vielen so. Ich habe auch etwas eigenwillig studiert, zwei ganze Semester lang war ich überhaupt niemals in der Universität. Ich habe mich auf Sachen wie Rechtsphilosophie konzentriert, die mit der praktischen Jurisprudenz damals so gut wie nichts zu tun hatte, und ich habe dann auch ein sehr schlechtes Erstes Examen gemacht. Erst als Referendar habe ich gemerkt, wozu das gut sein kann, was man bei den Juristen lernt.
Die beiden Semester, in denen Sie nie an der Uni waren – war das in Ihrer Heidelberger Zeit?
Eines davon. Ich habe mein Studium in Heidelberg begonnen und war dort drei Semester, ab dem Sommersemester 1959. In meinem zweiten Semester war ich Sprecher der Katholischen Studentengemeinde, und das war in dieser Zeit Fulltime-Arbeit, vor allem für einen Anfänger wie mich, der vom Land kam und von nichts eine Ahnung hatte. Dieses Wintersemester 1959/60 war ein hartes, aber sehr lehrreiches Semester – aber ich war, wie gesagt, nicht ein einziges Mal an der Uni, jedenfalls nicht zu Vorlesungen.
Heidelberg war für mich der Inbegriff einer Universität und auch einer Universitätsstadt, ein Traum.
Winfried Hassemer
Warum haben Sie sich damals entschieden, Ihr Studium in Heidelberg zu beginnen?
Ich komme aus einer kleinen Stadt in Rheinhessen und wollte unter keinen Umständen im nahen Mainz studieren, unter keinen Umständen weiterhin zu Hause wohnen und meine alten Freunde aus dem Gymnasium in Bingen wiedersehen. Es gibt wenige Wünsche, die bei mir so brennend waren wie dieser Wunsch. Mein Vater hatte gesagt: Ich bezahle dir ein Semester im Ausland, den Rest aber studierst du in Mainz und wohnst in Gau-Algesheim. Ich habe dann aber ein Stipendium des Cusanuswerks bekommen und war damit von den Wünschen meines Vaters unabhängig. Ich wollte also weg – und Heidelberg war für mich der Inbegriff einer Universität und auch einer Universitätsstadt, ein Traum.
Sie haben Ihr Studium dann in Genf und in Saarbrücken fortgesetzt – warum sind Sie nicht in Heidelberg geblieben?
Ich wollte ins Ausland, und weil ich aus Rheinland-Pfalz kam, war meine erste Fremdsprache Französisch. Genf war damals für Juristen eine gute Idee, weil man dort Scheine machen konnte, die auch hier anerkannt wurden. Dass ich danach nach Saarbrücken ging, hat mit einem der wichtigsten Erlebnisse zu tun, die ich in Heidelberg hatte: In meinem zweiten Semester musste ich für ein Gutachten für mein Stipendium mit Arthur Kaufmann sprechen, einem bekannten Juristen und Professor. Wir hatten ein sehr gutes Gespräch, und nach zwei Stunden hat er mir dann gesagt, er werde einen Ruf nach Saarbrücken annehmen, und wenn ich Lust hätte, könne ich bei ihm Assistent werden. Ich war ja erst im zweiten Semester und habe gesagt: Natürlich habe ich Lust, aber ich möchte erst noch für zwei Semester nach Genf. Das ist kein Problem, ich halte Ihnen die Stelle frei, sagte Arthur Kaufmann. Das hat er dann auch gemacht, und deswegen bin ich nach zwei Semestern in Genf nach Saarbrücken gegangen.
Gab es denn noch andere Erlebnisse in Heidelberg, die für Sie wichtig waren?
Ja, ich habe einige für mich wichtige Leute gehört, auch Historiker – übrigens auch mit Hilfe von Arthur Kaufmann, der mich auf solche Veranstaltungen hingewiesen hat. Ganz zentral wichtig für mich war aber auch die Tatsache, dass ich im Collegium Academicum gewohnt habe, einem selbstverwalteten Studentenwohnheim. Wir hatten einen wissenschaftlichen Leiter, den Philosophen Dieter Henrich, und wir waren 200 Studenten. Es haben sich immer mehr Leute gemeldet als es Zimmer gab, und die Studenten durften sich an der Auswahl, wen sie als Mitbewohner haben wollten, beteiligen. Ich hatte dort unglaublich viele Chancen, interessante Leute aus allen Fakultäten zu treffen. Das war für mich ein neues Leben, weil ich zum ersten Mal in eine Gemeinschaft kam, die wesentlich von Wissenschaft lebte. Wir haben viel über alles Mögliche diskutiert, haben Ausflüge und Reisen gemacht, zum Beispiel nach Ost-Berlin, wo wir mit anderen Studenten diskutiert haben. Und ich habe dort auch vieles für mein Studium gelernt – nicht einfach von meinen Professoren, sondern von älteren Kommilitonen, die im Collegium Academicum gewohnt haben.
Nach dem Studium wurden Sie Hochschullehrer und 1991 hessischer Datenschutzbeauftragter. Wie kam es dazu?
Das kam durch meinen Kollegen Spiros Simitis, den „Datenschutzpapst“ Deutschlands. Er gehörte mit zu den Begründern des Datenschutzes, und Hessen hatte das erste Datenschutzgesetz. Simitis hat mich schließlich gefragt, ob ich das Amt als sein Nachfolger übernehmen möchte. Ich habe gefragt: Wie kommen Sie denn auf mich als Strafrechtler? Sie sind auch ein Strafprozessualist, sagte er, und Sie kennen sich mit der Verfassung aus. Da ich in diesem Amt weiter an der Universität arbeiten konnte, habe ich es übernommen. Ich war knapp sechs Jahre Datenschutzbeauftragter und habe in der Zeit viel gelernt, denn das war für mich eine sehr ungewohnte, pragmatische Arbeit. Damals bestand Datenschutz zu einem guten Teil im öffentlichen Skandalisieren von Problemen, das hat die Sache vorangebracht – deshalb bin ich vielleicht auch einigen Leuten aufgefallen, weil ich meinen Mund aufgemacht habe. Das hat gut funktioniert, und ich war schon für die nächste Landtagsperiode gewählt – aber dann kam das Bundesverfassungsgericht dazwischen.
1996 wurden Sie Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, blieben aber zunächst auch weiterhin Professor an der Universität Frankfurt. Wie wichtig war Ihnen die Lehre?
Ich war bisher der einzige Strafrechtsprofessor, der jemals Richter am Bundesverfassungsgericht wurde. Ich bin nicht nach Karlsruhe umgezogen und hatte dort auch kein Zimmer, denn ich wollte auch nach außen dokumentieren: Ich bin eigentlich Professor in Frankfurt. Das Gesetz sieht vor, dass alle, die zu Verfassungsrichtern berufen werden, ihren Beruf aufgeben müssen – außer den Hochschullehrern. Ich wollte ursprünglich kein Richter werden, und ich war auch sehr überrascht, als ich gefragt wurde. Es war für mich wichtig, dass ich Professor bleiben konnte, das ist mein Beruf, nicht nur die Lehre, sondern auch die Forschung. Als ich dann aber 2002 Vorsitzender des Zweiten Senats wurde, war es mit der Lehre zu Ende, denn Sie können dann nicht mehr garantieren, dass Sie am nächsten Montag um 15 Uhr Ihr Seminar halten. Auch nach meiner Zeit beim Bundesverfassungsgericht habe ich die Lehrtätigkeit nicht wieder aufgenommen, weil das zeitlich genau mit meiner Emeritierung zusammenfiel.
Welche Fälle am Bundesverfassungsgericht waren für Sie besonders wichtig?
Es gibt eine Reihe bemerkenswerter Fälle. Der Gipfel war meine letzte Entscheidung – "meine" heißt, dass ich als Berichterstatter zuständig war – zum strafrechtlichen Inzestverbot. Ich bin 1:7 gescheitert, denn der Senat war nicht zu der Meinung zu bewegen, dass dieses Verbot mit unserer Verfassung nicht zu halten ist. Ich habe dann ein deutliches Sondervotum geschrieben. Sondervoten sind eine wunderbare Einrichtung des Bundesverfassungsgerichts, die sehr hilft, wenn Sie anderer Meinung sind als die Mehrheit. Denn dann können Sie Ihre Gründe zusammen mit dem Urteil der Mehrheit veröffentlichen. Das war mein einziges Sondervotum in zwölf Jahren, und das war für mich auch ein wichtiger Fall, der mit einer gewissen Enttäuschung endete – aber so ist das Leben eines Richters. Weitere wichtige Fälle für mich waren die Entscheidungen zum Euro, über die Zeugen Jehovas, zum AWACS-Einsatz der Bundeswehr und zum NPD-Verbot.
Kann es vorkommen, dass man als Verfassungsrichter zu einem Thema eine persönliche Meinung hat, rechtlich aber zu einer anderen Bewertung kommt?
Das gibt es. Man kann vieles für richtig oder politisch für die einzige Möglichkeit halten. Und dann merkt man, dass man es entweder nicht begründen kann, also mit dem Wortlaut der Verfassung und dem, was das Bundesverfassungsgericht bisher dazu konkretisiert hat, nicht zusammenbringen kann – oder auch, dass man die anderen Richter im Senat einfach nicht davon überzeugen kann. Man versteht, was die anderen meinen, aber trotzdem kann man es nicht billigen, sondern man bleibt bei seiner Meinung. Und es ist wichtig, eine Regelung zu haben, wie man in solchen Fällen verfährt. Ein lehrreiches Beispiel ist die Entscheidung zum NPD-Verbot 2003, als vier Richter das Verbotsverfahren weiterführen wollten und drei andere sich damit durchgesetzt haben, es wegen des Einsatzes von V-Leuten einzustellen. Dazu haben nach dem Gesetz drei Richter gereicht – dahinter steht die Entscheidung, dass für bestimmte Urteile, die besonders stark in Rechte oder in Institutionen eingreifen, nicht eine normale Mehrheit ausreicht, sondern nur eine qualifizierte Mehrheit, und die gab es damals nicht. Das war also keine Entscheidung zu den Inhalten, also ob die NPD verfassungswidrig ist, sondern zum Verfahren. Diese Unterscheidung von Verfahren und Ergebnis oder formellem Teil und materiellem Teil ist ein wichtiger Maßstab in der gesamten Jurisprudenz eines Rechtsstaats.
Wie beurteilen Sie nun den zweiten Anlauf für ein NPD-Verbot zehn Jahre später?
Ich bin immer noch auf dem Boden der Entscheidung des Senats von damals, und ich glaube den Antragsberechtigten, dass sie das damalige Problem im Griff haben. Das spricht für ein Verbotsverfahren. Ich bin zweitens der Meinung, dass dieses Recht des Bundestags, des Bundesrats und der Bundesregierung, über die Einleitung eines Verbotsverfahrens zu entscheiden, ein politisches Recht ist: Sie müssen sich fragen, was ein solches Verfahren für unsere Politik bedeutet, auch das Risiko, dass es wieder scheitert; denn man muss ja sehen, dass es am Ende wahrscheinlich zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geht, der nach anderen Maßstäben judiziert als wir. An dritter Stelle steht die Überlegung, dass der Gesetzgeber unserer Verfassung ein solches Verfahren eingerichtet hat, und wenn alle Voraussetzungen gegeben sind, dann sollte man es versuchen. Es bleibt jedoch eine politische Entscheidung, die ich nicht zu treffen oder zu empfehlen habe – aber ich mache doch darauf aufmerksam: Wenn man es jetzt nicht macht, wann dann? Dann muss man sich mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass man einen Teil der Instrumente, die die Verfassung zur Verfügung stellt, nicht nutzt.
Für Sie war das Verhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit immer ein wichtiges Thema. Haben Sie während Ihrer Zeit am Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass sich da in der öffentlichen Meinung nach dem 11. September 2001 etwas verändert hat?
Ich sehe das so. Dieser Streit zwischen Freiheit und Sicherheit, der seit geraumer Zeit tendenziell zugunsten der Sicherheit entschieden wird, ist älter ist als der 11. September 2001. Aber um diesen Zeitpunkt herum sind einige Instrumente, die für Sicherheit stehen, wesentlich verschärft worden. Das Bundesverfassungsgericht hat im Grunde immer nur gesagt: Bis hierhin und nicht weiter – das hat es aber dann auch sehr klar gesagt. Das ist die Aufgabe des Gerichts, und zwar beider Senate. Das heißt, das Gericht hat tendenziell immer den Freiheitsstandpunkt betont. Ich glaube, es gab im politischen Bereich nicht viele – bei den Wissenschaftlern ist das anders –, die so intensiv wie das Bundesverfassungsgericht die Seite der Freiheit hochgehalten haben. Aber es gibt gute Gründe zu sagen, dass unsere Gesellschaft Sicherheit vor vielem anderem will. Dazu habe ich auch viel geforscht.
Eine letzte, ganz andere Frage: Haben Sie denn als Rheinhesse auch einen Bezug zur Fastnacht?
Ja natürlich, die Fassenacht war für mich immer wichtig! Mein Vater war ein großer und guter Fassenachter in Gau-Algesheim. 2012 habe ich zum 100. Geburtstag des Carnevalvereins Gau-Algesheim die Festrede halten dürfen über die Fassenacht, die ja vor großen Problemen steht und deren Bedeutung stetig abnimmt. Die Geschichte der Fassenacht ist eine sensationelle Geschichte, und heute ist sie eine Tradition, ein Geschenk der Altvorderen an diejenigen, die ihnen nachgefolgt sind. Ich bin sehr interessiert und in einer gewissen Weise auch daran beteiligt, dass diese Tradition nicht abbricht. Es geht in dieser Mainzer Tradition zuerst einmal um Reden und Vorträge, die sehr variantenreich sind und bei denen die Mundart eine wichtige Rolle spielt. Die „Kampagne“ geht am Elften im Elften los, in Gau-Algesheim fangen dann ein paar Leute an, an ihren Vorträgen zu arbeiten und zu feilen, früher kamen sie dann auch damit zu meinem Vater, der ein Gefühl für Sprache hatte. Die Fassenacht ist sehr vielfältig, kann diese Vielfalt aber nur bewahren, wenn sie auch regional ausgerichtet bleibt. Deswegen sehe ich die Fernsehfastnacht kritisch, gegen die sich auch mein Vater bis zum Ende seines Lebens gewandt hat. Politik und Witze haben auch regionale Gegenstände, und sie werden im Dialekt vorgetragen. Bei der Fernsehfastnacht steht aber am Ende ein Produkt, das jeder schlucken kann – und das ist nicht das, was Fassenacht einmal war, und es schlägt auf die regionale Fassenacht zurück.
(Das Interview führte Mirjam Mohr)