Bernt Spiegel Mensch, Markt und Maschine
Begründer der Marktpsychologie, Motorradexperte und Romanautor
Das Foto in der Studentenakte zeigt einen ernst dreinschauenden, korrekt gekleideten jungen Mann im Halbprofil, den Blick in die Ferne gerichtet. Ein Mann, der kurz zuvor aus Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt ist, der sich zehn Tage lang mit einem behelfsmäßig verarzteten Oberarmdurchschuss von der Oder-Front zu den englischen Truppen in Schleswig-Holstein durchgeschlagen hat. Trotz Fieberschüben, trotz Hunger, weiter, immer weiter, bloß nicht in die Hände der Russen fallen – keine 20 Jahre alt ist Bernt Spiegel auf diesem Bild und soeben der schlimmsten Zeit seines Lebens entronnen.
Wenn der nun 94-Jährige lacht, dann rutschen seine Augenbrauen eine Etage höher, die dunklen Augen strahlen und der Mund verzieht sich zu einem fröhlichen, ja man könnte fast sagen: spitzbübischen Grinsen. Sein Credo: Sich nicht beeindrucken lassen von den Dingen, die in der Zukunft liegen. „Das Leben an sich herankommen lassen.“ 2020 hat der renommierte Wirtschafts- und Sozialpsychologe sein jüngstes Buch veröffentlicht – den gut 900 Seiten starken Roman „Milchbrüder, beide“. Er erzählt die Geschichte zweier Freunde in der NS-Zeit, die von derselben Amme gestillt wurden: Der eine Sohn eines Industriellen, der andere Sohn von dessen Chauffeur; der eine macht Karriere in der SS, der andere arrangiert sich mehr schlecht als recht mit dem System.
1945, soeben aus englischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, schreibt sich Bernt Spiegel als einer der ersten Studenten nach Wiedereröffnung der Ruperto Carola an der Universität ein. Mit gerade einmal 17 Jahren war er zur Flak, direkt anschließend zum Wehrdienst eingezogen worden und hatte die Schule nicht beenden können. In Heidelberg muss er daher zunächst zwei Vorsemester absolvieren. In dieser Zeit holt er unter anderem das Große Latinum nach, das ihm „mit dem Presslufthammer“ vermittelt wird. „Damals habe ich gemerkt: Je schneller man etwas lernt, desto schneller vergisst man es auch wieder. Die solide Wissensvermittlung des Gymnasiums ist durch nichts zu ersetzen.“
Nach den Vorsemestern entscheidet sich Bernt Spiegel für die Psychologie. Als „eine Zeit des Aufbruchs“ beschreibt er die Atmosphäre an der Universität in den ersten Nachkriegsjahren. „Damals waren großartige Persönlichkeiten wie der Philosoph Karl Jaspers, der Psychiater Willy Hellpach und der Politologe Dolf Sternberger in Heidelberg.“ Im Grundstudium lernt er auch seinen späteren Doktorvater Wilhelm Witte kennen, der mit seinen Studierenden nach der
Vorlesung noch auf der Hauptstraße weiterdiskutiert: „Das war ein gänzlich anderes Verhältnis zwischen Lehrenden und Studierenden. Jeder kannte jeden.“ Schon damals hätte er sich gerne mit seinen Kommilitonen über die NS-Zeit ausgetauscht, fragt aber ins Leere: „Gerade die älteren Semester waren nicht bereit, über die Vergangenheit zu reden, zumindest nicht mit uns Grünschnäbeln.“
Noch mit seiner Dissertation beschäftigt, fällt Bernt Spiegel eher zufällig ein Werbe-Faltblatt der Firma Hoffmann-La Roche in die Hände und er schreibt an den Basler Konzernsitz. „Das Faltblatt sollte für ein kräfteförderndes Medikament werben und stellte einen Sportler dar, der einen Ball wegschleudert“, erinnert sich der 94-Jährige. „Die Dynamik des Bildes aber war völlig gestört, weil der Ball angeschnitten war, was den ‚imaginären Mitvollzug’ blockierte.“ Einige Wochen später dann die Antwort des Pharmakonzerns: Ob Spiegel bereit wäre, monatlich in Briefform ein psychologisches Gutachten zu den Werbeaktivitäten von Hoffmann-La Roche abzugeben. 300 D-Mark soll der Auftrag ihm einbringen – für den Doktoranden ein kleines Vermögen. Gemeinsam mit einem älteren Kommilitonen macht er sich ans Werk und gründet wenig später das „Fachinstitut für Werbewissenschaftliche Untersuchungen“, das heute als „Spiegel Institut“ von seinem Sohn und seiner Tochter weitergeführt wird.
Man darf sich von den Dingen, die in der Zukunft liegen, nicht beeindrucken lassen.
Bernt Spiegel
Eine Stelle als wissenschaftlicher Assistent führt Bernt Spiegel Anfang der 1950er-Jahre von der Universität Heidelberg an das Psychologische Institut der damaligen Wirtschaftshochschule Mannheim. „Dort ist mir bald klargeworden, dass die Bezeichnung Werbepsychologie das wachsende Gebiet, das wir beackerten, nicht mehr ausreichend abdeckte. So bin ich auf den übergeordneten Begriff der Marktpsychologie gekommen, die die Werbepsychologie in sich aufnahm.“ Schnell findet der neue Begriff Verbreitung und wird auch im englischsprachigen Raum adaptiert. Bernt Spiegel, der später als Professor an der Universität Göttingen lehrt, gilt aber nicht nur als Begründer der Marktpsychologie – Anfang der 60er-Jahre entwickelt er auch die seither vielfach angewandte Theorie der Marktnische. Dem angeschlagenen Automobilhersteller BMW verhilft dieses Konzept zu Wiederaufstieg und rapidem Wachstum, und dessen Vorstandsmitglied Paul G. Hahnemann, der Spiegels Nischentheorie aufgegriffen hatte, zu einem lebenslang anhaftenden Spitznamen: Nischen-Paule.
Nun ist dieser Mann, der hier am Esstisch seines 60er-Jahre-Bungalows aus seiner Lebensgeschichte erzählt, aber nicht nur Marktforscher und Romanschriftsteller, sondern auch Autor eines in mehrere Sprachen übersetzten Bestsellers über das Motorradfahren. Wie passt das zusammen? Bernt Spiegels Interessen sind eben vielseitig. Die Leidenschaft für das Motorradfahren entdeckt er bereits mit 13 Jahren. Ohne das Wissen der Eltern kauft er sich für mühsam zusammengesparte 15 Reichsmark seine erste Maschine – einen „Schrotthaufen“,
der ihm bald von der Polizei wieder abgenommen wird. Viele Jahrzehnte weiht er am Nürburgring fortgeschrittene Motorradfahrer in die Geheimnisse der „schwierigsten Rennstrecke der Welt“ ein und hält abends fesselnde Vorträge. „Hier habe ich gemerkt, dass ich etwas mitzuteilen habe.“ Dabei geht es ihm vor allem um das Zusammenspiel von Mensch und Maschine, das Spiegel auch in seinem Bestseller „Die obere Hälfte des Motorrads“ eingehend beleuchtet: „Der Fahrer darf nicht bloßes Ladegut sein, bei perfektem Gebrauch bezieht er das Motorrad in seine eigene Körperlichkeit mit ein, das Gerät wird zu einem extrasomatischen Teil seiner selbst.“ Bernt Spiegel geht den Dingen eben auf den Grund – so wie er in seiner beruflichen Laufbahn die Phänomene der Marktpsychologie stets bis in die Tiefen durchleuchtet hat und so wie er mit dem Roman „Milchbrüder, beide“ nun auch der deutschen und seiner eigenen Vergangenheit noch einmal nachgegangen ist.