Mūsa ʿAllūš liest Texte aus Schmidt/Kahle
Eine der umfangreichsten und schönsten Textsammlungen der arabischen Dialektologie sind zweifellos die "Volkserzählungen aus Palästina - gesammelt bei den Bauern von Bīr-Zēt und in Verbindung mit Dschirius Jusif in Jerusalem herausgegeben von Hans Schmidt und Paul Kahle" (Band 1: Göttingen 1918; Band 2 mit den Geschichten 65-132: Göttingen 1930). Entsprechend deren Titelblättern wird diese Sammlung meist unter der Kurzform "Schmidt/Kahle" zitiert. Dabei wird unterschlagen, dass die Hauptarbeit gemäß den Angaben von Hans Schmidt im Vorwort des ersten Bandes - nämlich die Mitschrift und Transkription der Stücke - von Dschirius (Abu) Jusif (جريس يوسف Ǧiryus Yūsif) aus Bīr Zēt geleistet wurde. Auch seine Schwester transkribierte einige Teile. Die Texte selbst stammen nicht nur aus Bīr Zēt, sondern auch aus zahlreichen umliegenden Dörfern. Sie sind grammatikalisch sehr einheitlich und stimmen mit den Angaben von Leonhard Bauer in dessen Werk "Das Palästinische Arabisch - Die Dialekte des Städters und des Fellachen" (4. Auflage Leipzig 1926) überein, und zwar sowohl hinsichtlich dessen Ausführungen im grammatikalischen Teil, als auch in der angefügten Chrestomathie, die bäuerliche Lesestücke vom selben Typus enthält. Eines der auffälligsten Merkmale der palästinensischen Bauerndialekte ist demnach das suffigierte Personalpronomen der 3. Person mask. Sg. auf -e(h).
Im Verlaufe meines einjährigen Forschungsaufenthalts in der West Bank stellte ich fest, dass Bīr Zēt zu einer kleinen, geographisch nicht zusammenhängenden Gruppe von Dörfern gehört, in denen eine Femininendung mit Imala und ein suffigiertes Personalpronomen auf -e vorkommen, und dass hūte und hīte in der Bīr-Zēt-Gruppe als Variante des selbständigen Personalpronomens der 3. Person Sg. auftauchen (in Schmidt/Kahle merkwürdigerweise nirgends belegt). Der Bīr-Zēt-Dialekt ist ein eher rarer Sonderfall des zentralpalästinensischen Dialekttypus, wobei der zentralpalästinensische Typus wiederum eine Sonderstellung innerhalb der palästinensischen Dialektlandschaft einnimmt, denn alle anderen mir bekannten palästinensischen Bauerndialekte kennen eine Imala der Femininendung, haben für gewöhnlich ein suffigiertes Personalpronomen der 3. Person mask. Sg. auf -u und unterscheiden sich auch in in einigen weiteren, hier nicht genannten Merkmalen deutlich.
Wie kam es unter diesen Umständen dazu, dass allein der rare Bīr-Zēt-Typ in den Werken von Schmidt/Kahle und Bauer das palästinensische Bauernarabisch repräsentiert? Im ersten Falle fällt die Erklärung leicht: Dschirius Jusif schrieb die Erzählungen zunächst in Arabisch mit und übertrug anschließend das Geschriebene - zum Teil erst sehr viel später - in Transkription; dabei transkribierte er selbstverständlich auch die Geschichten aus den Nachbardörfern so, wie man bei ihm zu Hause, in Bīr Zēt, sprach; seltsam ist dabei nur, dass er die in Bīr Zēt gängigen Formen hūte und hīte niemals verwendete. Schwieriger ist die Sachlage bei Bauer: Er hätte doch erkennen müssen, dass in den Dörfern nördlich von Jerusalem in der Regel anders als in Bīr Zēt gesprochen wird. Aus der Einleitung zu seinem "Deutsch-Arabischen Wörterbuch der Umgangssprache in Palästina und im Libanon" (2. Auflage Wiesbaden 1957) erfahren wir, dass sein Hauptinformant aus iṭ-Ṭayybe stammte. iṭ-Ṭayybe ist wie Bīr Zēt auch heute noch ein überwiegend christliches Dorf (eines der beiden Dörfer in der Westbank, die bis zur Jahrtausendwende noch Moschee waren; dafür besitzt es eine Brauerei) und zählt, wie ich verifizieren konnte, zu der kleinen Gruppe von Dörfern des Bīr-Zēt-Dialekttyps. Wir können davon ausgehen, dass Leonhard Bauer praktisch ausschließlich mit christlichen Arabern Umgang hatte; und christliche Dörfer sind auffallend häufig in der Bīr-Zēt-Gruppe repräsentiert. Auch Ramallah selbst zählt beispielsweise dazu. So hat ihn also wohl die durch seine Lebensweise bedingte selektive Wahrnehmung zu einer falschen Verallgemeinerung geführt.
Ein Augenmerk im Verlaufe meines Aufenthalts galt selbstverständlich der Frage, wie zuverlässig die von Dschirius Jusif und seiner Schwester angefertigten und von Paul Kahle durchgesehenen Transkriptionen sind, also inwieweit sie mit dem Dialekt übereinstimmen, den ich fast hundert Jahre später, freilich nur bei den sehr alten Einwohnern Bīr Zēts, antraf. Nun, abgesehen von der oft verwirrenden und inkonsequenten Schreibung der zusammengefallenen Laute ض und ظ (vgl. S. 48 in Schmidt/Kahle 1) ist das Werk von Dschirius und seiner Schwester exzellent, und nur überzogene Pedanterie wird seine Ungenauigkeiten tadeln.
Mūsa ʿAllūš (موسى علوش) ist Inhaber der ältesten Apotheke von Bīr Zēt und neben seinem Beruf als Apotheker auch Verleger und leidenschaftlicher Sammler zur Ortsgeschichte. In seinem Verlag publizierte er eine heute leider vergriffene, arabische Ausgabe der beiden Bände von Schmidt/Kahle. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um einen photomechanischen Nachdruck, in dem die deutsche Übersetzung durch eine Wiedergabe der Texte in arabischer Schrift ersetzt ist. Mūsa ʿAllūš hat dafür eigens eine modifizierte arabische Schrift entwickelt, so dass jedem Zeichen der Transkription ein arabisches Zeichen entspricht. Ich bat ihn, mir einige Geschichten aus seiner Ausgabe vorzulesen. Obwohl er im Alltagsleben nur noch "gemäßigten" Dialekt spricht, weiß er doch noch sehr gut, wie seine Eltern gesprochen haben, und man kann davon ausgehen, dass seine Aussprache im Wesentlichen dem entspricht, was Schmidt und Dschirius damals in Bīr Zēt gehört haben. Mūsa ʿAllūš verdanke ich nicht nur diese Aufnahmen, sondern zahlreiche Hinweise und Hilfe für mein Forschungsprojekt während meines Aufenthaltes. Ich möchte es nicht versäumen, ihm an dieser Stelle zu danken.
Hören Sie im Folgenden die von Mūsa ʿAllūš vorgelesenen Geschichten aus Schmidt/Kahle: Text 22 • Text 24 • Text 33 • Text 37 • Text 80 • Text 81
Kontakt Autor: seeger@uni-hd.de