Über die Papyrologie
Papyrus war das gebräuchlichste Schreibmaterial in allen Kulturen der antiken Mittelmeerwelt. Hergestellt in Ägypten aus den Fasern der dort einheimischen Sumpfpflanze Cyperus papyrus, wurde das Produkt weithin exportiert. Anderen Beschreibstoffen wie etwa dem Pergament, das erst vom 1. Jh.n. Chr. an weitere Verbreitung erlangte, oder Holz- und Wachstafeln kam demgegenüber eine deutlich geringere Bedeutung zu. Allenfalls die Scherben zerbrochener Tongefäße (Ostraka), die überall reichlich zur Verfügung standen, benutzte man - zumindest in Ägypten - in größerem Maße als billigen Ersatz für Papyrus zur Niederschrift kurzer Texte des täglichen Lebens. Etwa vom 8. Jh. an übernahm schließlich das Hadernpapier die Rolle, die bis dahin Papyrus gespielt hatte.
Die am Heidelberger Institut für Papyrologie arbeitenden Wissenschaftler sind herkömmlicherweise Klassische Altertumswissenschaftler, genauer gesagt Gräzisten oder Althistoriker. Objekt dieser Disziplin sind folglich die griechischen (und lateinischen) Papyri, Ostraka usw., die auch zahlenmäßig bei weitem überwiegen, während man die Bearbeitung der in orientalischen Sprachen beschrifteten Stücke den Nachbarfächern überläßt, beispielsweise der Ägyptologie (mit ihren Spezialdisziplinen Demotistik und Koptologie) und der Arabistik. Den griechischen Papyri wiederum kann man sich mit den unterschiedlichsten Fragestellungen und von den verschiedensten Interessengebieten her zuwenden. So kann man sich etwa als Klassischer Philologe auf die Bearbeitung derjenigen Papyri spezialisieren, die unsere Kenntnis der antiken griechischen Literatur erweitern. Papyri haben nämlich Werke zuvor nahezu unbekannter Autoren ans Licht gebracht - hier wären z.B. die Komödien Menanders und die Gedichte des Bakchylides zu nennen -, oder sie enthalten durch mittelalterliche Überlieferung schon bekannte Werke in korrekteren, weniger durch Abschreibfehler oder gar redaktionelle Eingriffe verunstalteten Fassungen, bzw. sie tragen zum Verständnis der Überlieferungsgeschichte dieser Literatur bei.
Der Althistoriker sieht sich einer Fülle von Primärquellen gegenüber, die Aufschluß über die alltäglichen Lebensumstände der einfachen Bevölkerung in den Dörfern und kleinen Städten des flachen Landes Ägyptens geben, aber auch großräumige Wirtschaftsentwicklungen, z.B. Teuerungen und Inflationen, beleuchten und in einigen Fällen sogar die politische Geschichte des Ptolemäerreiches oder des römischen Imperiums besser zu verstehen helfen.
Der Rechtshistoriker beobachtet in vielen Hunderten von Rechtsurkunden (Kauf, Pacht, Kreditgeschäften, Heirats-, Arbeits-, Lehrverträgen usw.) das Nebeneinander und Miteinander von einheimisch ägyptischem und griechischem Recht und schließlich die Einflüsse des römischen Reichsrechts.
Der Theologe wertet die auf Papyrus erhaltenen frühesten Zeugnisse für den Text des griechischen Alten und Neuen Testaments aus, interpretiert die zahlreichen Beispiele frühchristlicher apokrypher oder patristischer Literatur, die durch Papyrusfunde erstmals bekanntgeworden sind, oder er sammelt, sofern er religionsgeschichtlich interessiert ist, die Zeugnisse heidnischer und frühchristlicher Volksfrömmigkeit, welche die Papyri in Form von Gebeten, Hymnen usw. oder von Zaubertexten enthalten.
Der Linguist verfolgt in unzähligen Privatbriefen das Entstehen der antiken griechischen Volkssprache, einer Zwischenstufe auf dem Weg vom klassischen Altgriechisch zum Neugriechischen. Der Paläograph schließlich beobachtet die Entwicklung der griechischen und lateinischen Buch- und Geschäftsschrift anhand der Papyrusbeispiele kontinuierlich über Jahrhunderte hinweg. Alle diese Wissenschaftler verfolgen darin einen Einzelaspekt der Papyrologie.
Die Arbeitsweise des Papyrologen im engsten Sinne des Wortes ist jedoch eine andere und schließt alle vorher genannten Tätigkeiten gewissermaßen in sich ein. Der Papyrologe nimmt in der Regel einen unedierten, also noch unentzifferten Papyrus zum Ausgangspunkt seiner Arbeit, wobei dessen Inhalt, ob es sich nun um ein literarisches Stück oder einen dokumentarischen Text handelt, im Prinzip keine Rolle spielt, ja gar keine Rolle spielen kann, da der genaue Inhalt erst noch herausgefunden werden muß. Erste Aufgabe ist es, den Text zu entziffern und eine Transkription anzufertigen, was wegen der extrem kursiven Schrift, in der besonders dokumentarische Papyri sehr häufig geschrieben sind, oft eine mühselige, Tage und Wochen in Anspruch nehmende Tätigkeit ist. Erst wenn man weiß, was zu erwarten ist, läßt sich manche Stelle wirklich entziffern. Dabei versucht man, mit Hilfe von Paralleltexten, die natürlich auch erst gefunden werden müssen, oder durch scharfsinnige Kombination die Lücken, von denen ein Papyrus gewöhnlich durchsetzt ist, bzw. fehlende Partien zu ergänzen.
Ist der Text, soweit dies möglich ist, rekonstruiert, fertigt man eine Übersetzung an und bemüht sich, in einem Kommentar darzulegen, in welchem Rahmen und größeren Zusammenhang der einzelne Text zu sehen ist und worin seine Besonderheiten liegen. Alle Ergebnisse der Arbeit faßt man sodann in der Edition zusammen. Ausgehend vom Einzeltext kommt der Papyrologe also immer erst sekundär zur Zusammenschau, seine vornehmliche Aufgabe bleibt es, durch Editionen den Mitforschern das in den Papyri enthaltene Quellenmaterial aufzubereiten und zur weiteren Auswertung zu erschließen.
Derartige editorische Arbeit ist sowohl in Heidelberg als auch in den kleineren Sammlungen Deutschlands (z.B. der Bayerischen Staatsbibliothek in München und der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg) noch in großem Umfang zu leisten. Von den rund ca. 4.500 inventarisierten griechischen Papyri der Heidelberger Sammlung sind bisher keine 700 durch Veröffentlichung der Fachwelt zugänglich gemacht worden.
Durch die Förderung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften konnten in den vergangenen Jahren vier Bände mit Editionen griechischer Papyri, ein Band mit arabischen Texten sowie einer mit der Edition eines koptischen Zauberbuches herausgebracht werden.