Interdisziplinäres Projekt: Elternschaft im Wandel – Transforming Parenthood
Beteiligte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
Prof. Dr. Beate Ditzen (Insitut für Medizinische Psychologie)
Prof. Dr. Katja Patzel-Mattern (Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte)
Franziska Biggel (Institut für ausländisches und internationales Privat- und Wirtschaftsrecht)
Franziska Frech, M. Sc. Psych. (Institut für Medizinische Psychologie)
Mirjam Lober, M.A. (Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte)
Laura Moser, M.A. (Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte)
Dr. Nora Nonnenmacher (Institut für Medizinische Psychologie)
Alix Schulz, M.Jur. (Institut für ausländisches und internationales Privat- und Wirtschaftsrecht)
Veröffentlichungen aus dem Projekt
Thema
Elternschaft ist Erbe, Gegenwart und Zukunft der Menschheit. Sie begründet die elementaren Bausteine unserer Gesellschaft, die Familien. Zugleich folgt Elternschaft sozial geteilten Vorstellungen des „Normalen“, sogenannten Leitbildern. Diese definieren wer zu einer „normalen“ Familie gehört oder bestimmen, wie eine „normale“ Familiengründung verläuft. Betrachtet man die Gegenwart, so lässt sich konstatierten, dass solche Gewissheiten einerseits erodieren und sich andererseits fortentwickeln. Die jahrtausendalte Kulturweisheit „mater semper certa est“ gilt nicht mehr. Das Verständnis von Elternschaft ist nicht mehr länger biologisch definiert, sondern gesellschaftlich konstruiert. Moderne Familienformen, eine Öffnung des Geschlechtsbegriffes und Entwicklungen in der Reproduktionsmedizin stellen Leitbilder, überkommenes Alltagswissen ebenso wie das geltende Recht auf die Probe. Diese Entwicklungen werden durch die Mobilität von Personen in einer globalisierten Welt noch beschleunigt. So sorgen die internationale Fertilitätsmedizin und polygame Familienverhältnisse für Herausforderungen.
In Zusammenarbeit mit dem Institut für Ausländisches und Internationales Privat- und Wirtschaftsrecht und dem Institut für Medizinische Psychologie der Universität Heidelberg sucht der Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte nach Antworten auf die Fragen, wie sich Leitbilder von Elternschaft wandeln, welche Faktoren dabei insbesondere Veränderungen unterliegen bzw. stabil bleiben und welche Faktoren (sozialer, psychischer, biologischer oder genetischer Art) für die Eltern-Kind-Zuordnung normativ ausschlaggebend sein sollten. Aktuelle individuelle Einstellungen, die Einschätzung der rechtlichen Situation in unterschiedlichen Familienkonstellationen und Generationen im Vergleich zu überlieferten Dokumenten stehen hierbei im Fokus und werden miteinander verknüpft untersucht.
Teilprojekt Geschichte der Elternschaft
Ausgangspunkt des historischen Teilprojekts bilden zwei Befunde: einerseits die Vielfältigkeit von Familienbeziehungen bereits vor der Öffnung des Geschlechterbegriffs oder den Entwicklungen der modernen Reproduktionsmedizin und andererseits das Bestreben des Nationalstaats, Elternschaft gesetzlich zu fundieren und damit Normen, die als Teil von Leitbildern zu gelten haben, festzuschreiben. Vor diesem Hintergrund fragt das historische Teilprojekt nach der konkreten Ausgestaltung älterer Leitbilder von Elternschaft und ihrer Bedeutung für heutige Einstellungen. Aus der Fragestellung ergibt sich der Forschungszeitraum. Als unmittelbar relevant für aktuelle Einstellungen werden Leitbilder angesehen, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Wahrnehmung von Elternschaft in Deutschland prägten und damit über personale Weitergabeprozesse zwischen den Generationen auf heutige Eltern wirken. Damit erstreckt sich der Forschungshorizont des historischen Teilprojekts zeitlich von 1945 bis zur Wiedervereinigung und räumlich auf die alte Bundesrepublik und die DDR.
Teilprojekt Rechtliche Aspekte der Elternschaft
Elternschaft im Rechtssinne bedeutet, einer Person den rechtlichen Status als Elternteil zuzuweisen und sie nach den Vorschriften des geltenden Rechts zu berechtigen und zu verpflichten. Im deutschen Recht sind Eltern zunächst diejenigen Personen, die in einer abstammungsrechtlichen Verbindung (§§ 1589 ff BGB) zu einem Kind stehen. Dies ist nach der geltenden Rechtslage einerseits die Frau, die das Kind geboren hat (§ 1591 BGB) und andererseits der Ehemann der Mutter (§ 1592 Nr. 1 BGB) oder der Mann, der die Vaterschaft anerkannt hat (§ 1592 Nr. 2 BGB) bzw. dessen Vaterschaft gerichtlich festgestellt wurde (§ 1592 Nr. 3 BGB). Darüber hinaus sind auch die Adoptiveltern Eltern im Rechtssinne, da die Adoption gem. § 1754 BGB ein abstammungsrechtliches Eltern-Kind-Verhältnis bergründet. Der einmal begründete Status als rechtlicher Elternteil ist von zentraler und absolut wirkender Bedeutung.
Gegenwärtig sind jedoch Reformen- sowie eine zunehmende Pluralisierung der Elternschaft zu beobachten. Diese Pluralisierung wird durch die wachsende Personenmobilität in einer globalisierten Welt noch verstärkt. Prominentestes Beispiel sind fertilitäts-/reproduktionsmedizinische Verfahren, wie die Eizellspende oder die Leihmutterschaft. International existiert indes bislang noch kein rechtlich harmonisierter Ansatz im Umgang mit diesen Verfahren. Während Eizellspende und Leihmutterschaft in Deutschland und zahlreichen anderen Staaten verboten sind, gestatten einige Länder altruistische (nicht kommerzielle) Eizellspenden bzw. Leihmutterschaft. In einige Staaten ist die kommerzielle Eizellspende und teils sogar die kommerzielle Leihmutterschaft zulässig. Diese unterschiedliche rechtliche Bewertung führt bisweilen zu Rechtsarbitrage (z.B. durch „Fortpflanzungstourismus“) und fordert das geltende Internationale Privat- und Verfahrensrecht heraus.
Teilprojekt Elternschaft aus psychologischer Perspektive
Elternschaft wird einerseits durch kulturelle Einflüsse und individuelle Lernerfahrungen in der Herkunftsfamilie sozial geprägt (Lück & Diabaté, 2015). Andererseits wirken aktuelle Emotionen und individuelle Motive auf die Wahrnehmung und Einschätzung von Elternschaft, so dass in der psychischen Repräsentation u.a. historische, kulturelle, aber auch biologische Aspekte zusammenfließen. Bei sich zunehmend diversifizierenden Familienmodellen (u.a. Patchworkfamilien, Adoptivfamilien, Pflegefamilien, Regenbogenfamilien) und einer damit einhergehenden Entkopplung von genetischer, biologischer, sozialer und rechtlicher Elternschaft, rückt die Beziehung der Eltern zu ihrem Kind als relevante gemeinsame Konstante in den Fokus des psychologischen Interesses. Ein zentrales Konzept ist hierbei die Bindung der Eltern an das Kind. Bindung ist so bedeutend für das gesamte Leben, dass John Bowlby sie als menschliches Grundbedürfnis konzeptualisiert hat, vergleichbar mit dem Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme (Bowlby, 1989). Entsprechend belegen bildgebende Verfahren in der psychobiologischen Forschung eine starke Belohnungsaktivierung im Gehirn beim positiven Kontakt von Müttern und Vätern mit dem eigenen Kind (Feldman, 2015; in Überblick: Zietlow, Heinrichs, & Ditzen, 2016). Dass Väter ähnlich stark auf ihr Kind reagieren, zeigt dass die genetische oder auch allein die soziale Elternschaft ausreicht, um eine intensive Bindung aufzubauen. Psychologische Untersuchungen konnten außerdem zeigen, dass liebevolle Bindungen bzw. positive Eltern-Kind-Beziehungen die Weitergabe von Werten, Überzeugungen, Wissen, Praktiken usw. vermitteln (Erzinger & Steiger, 2014; Pooley & Qureshi, 2016; Roest, Dubas, & Gerris, 2009; Schönpflug, 2001). Elternschaft als Ursprung der Bindungsfähigkeit ist für den Erhalt und Wandel von Kultur somit unverzichtbar. Das psychologische Teilprojekt befasst sich mit der Psychobiologie der Eltern-Kind-Bindung und untersucht, ob sich hierbei unter Einbezug der historischen Perspektive Veränderungen über die Zeit sowie kulturelle Unterschiede vermuten lassen.
Geplantes interdisziplinäres Projekt
In zwei aufeinander aufbauenden Studien in Kooperation von Geschichtswissenschaften, Rechtswissenschaften und Psychologie wird der Frage nachgegangen, wie genetische, biologische, soziale und rechtliche Seiten der Elternschaft in unterschiedlichen Generationen und Familienkonstellationen repräsentiert sind. In Planung ist einerseits eine online-Erhebung zu Elternbildern, bei der neben der aktuellen Lebens- und Familiensituation auch das soziale Milieu erfragt werden soll. Die online-Befragung wird quantitativ ausgewertet werden, dabei sollen Unterschiede im Antwortverhalten zwischen den Milieus und Zusammenhänge in der Bewertung einzelner Elternmodelle und dem eigenen selbstberichteten Familienmodell untersucht werden. Im zweiten Teil des gemeinsamen Projekts setzt sich eine Oral History-Untersuchung zum Ziel, mit Familien unterschiedlicher Konstellationen Interviews zu führen und hierbei verschiedene Generationen derselben Familien zu befragen.
Literaturverzeichnis
Bowlby, J. (1989). Bindung: Historische Wurzeln, theoretische Konzepte und klinische Relevanz. In G. Spangler & P. Zimmermann (Eds.), Die Bindungstheorie: Grundlagen, Forschung und Anwendung (3. Auflage ed., pp. 17-26). Stuttgart: Klett-Cotta.
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