Verkörperung als Paradigma einer evolutionären Kulturanthropologie
Sobald menschliches Bewusstein erwacht, findet es sich als verkörpertes vor. Der Mensch kann sich zwar zu seinem Körper verhalten, sich denkend auch gegen seinen Körper definieren, aber auch seine raffiniertesten Denkoperationen bleiben in körperliche Vollzüge eingebettet. Der Geist ist kein in einem vermeintlichen Innenraum verborgenes und von der Welt weitgehend gelöstes neuronales Netzwerk, sondern als eine dynamische Weise des leiblichen In-der-Welt-Seins zu verstehen.
Aus diesem Grund betont der kognitionswissenschaftliche Ansatz der embodied cognition zwei Dimensionen der Verkörperung, nämlich erstens, „dass Kognition auf Erfahrungen basiert, die aufgrund leiblich-sensomotorischer Fähigkeiten evoziert werden, und zweitens, dass diese Fähigkeiten und Erfahrungen wiederum fundiert sind in biologischen, psychologischen und kulturellen Kontexten“ (Varela, Thompson, Rosch 1991).
Alles Lebensprozesse sind verkörpert. Wie lässt sich dies präziser bestimmen?
Das Marsilius-Projekt „Verkörperung als Paradigma einer evolutionären Kulturanthropologie“ arbeitet zum einen daran, die Einsicht in die Verkörperung aller menschlichen Lebensprozesse genauer zu erfassen. Wie lässt sich im Licht fachgebundener Heidelberger Forschungen – von der Robotik und Neurologie über die Psychopathologie bis hin zur Literaturwissenschaft, Philosophie und Theologie – diese Einsicht präziser bestimmen? Zum anderen lotet das Marsilius-Projekt die Konsequenzen des Verkörperungs-Paradigmas für eine neue interdisziplinäre Anthropologie aus. Die Zuwendung zum menschlichen Leib eröffnet neue Brücken zwischen naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Forschung. Es scheinen Spezifika des menschlichen Leibes zu sein, die es dem Menschen ermöglichen, bestimmte Kulturformen auszuprägen, und die so Geschichte mit ihren rasanten Entwicklungsdynamiken hervorbringen. Auch der Umschlag von natürlicher Evolution in geschichtliche Entwicklung ist in der Evolution des menschlichen Leibes verkörpert. Umgekehrt schreibt sich die Geschichte der Menschheit dem menschlichen Leib ein. Der Leib ermöglicht Geschichte – und Geschichte prägt den Leib.
Veranstaltungen der letzten Jahre und erste Ergebnisse
Das vom Forschungsverbund „Anthropologie und Ethik der Universität Heidelberg konzipierte Marsilius-Projekt „Verkörperung als Paradigma einer evolutionären Kulturanthropologie“ wurde am 11. Dezember 2013 mit einem Festakt in der fast vollständig besetzten Alten Aula feierlich eröffnet. Prof. Dr. Michael Hampe (Philosophie/ ETH Zürich) hielt den Festvortrag zum Thema „Zur Evolution der Sprache“.
Rechtzeitig zum Eröffnungsvortrag konnte die Projektgruppe ihre erste Publikation vorlegen, die auf Vorarbeiten der Marsilius-Sommerschule 2012 aufbaut: Thiemo Breyer/ Gregor Etzelmüller/ Thomas Fuchs/ Grit Schwarzkopf (Hgg.), Leib, Geist, Kultur. Interdisziplinäre Anthropologie, Schriften des Marsilius-Kollegs 10, Heidelberg 2013.
IWH-Symposium „Embodiment in Evolution and Culture“
Dem Austausch mit der internationalen Verkörperungsdebatte diente im Dezember 2014 ein IWH-Symposium „Embodiment in Evolution and Culture“. Das Symposium erkundete, inwiefern die spezifische Geistigkeit des Menschen in der Gestalt seiner Leiblichkeit, die sich evolutionär herausgebildet hat und dabei von der Kulturentwicklung beeinflusst wurde, begründet liegt. 17 international herausragende Wissenschaftler (Neurologen, Mediziner, Paläoanthropologen, Philosophen, Theologen und Erziehungswissenschaftler) aus England, Italien, den U.S.A. und Deutschland zeigten, auf wie vielfältige Weise Kommunikation und Gehirnentwicklung, Leib und Sprache, Werkzeuggebrauch und Hominisation, Verkörperung und Transzendenz miteinander verschränkt sind und sich wechselseitig prägen.
Teilprojekt "Theologie der Verkörperung"
Im Rahmen des Teilprojektes "Theologie der Verkörperung" fand 2014 ein international besetztes Symposium mit Kolleginnen und Kollegen aus Berkeley, Bern und Heidelberg statt, an dem auch 15 Nachwuchswissenschaftl
er und -wissenschaftlerinnen aus Heidelberg und Bern teilnahmen. Die Beiträge aus den verschiedenen theologischen Disziplinen haben erkennen lassen, dass die Wahrnehmung der radikalen Verkörperung des Menschen dazu beitragen kann, genuin theologische Themen (wie Schöpfung und Neuschöpfung, Inkarnation und Auferstehung, Gemeinde als Leib Christi und die Rede vom inneren Menschen) sachangemessener zu verstehen. Die Beiträge des Workshops wurden 2015 in der Reihe Theologische Bibliothek Töpelmann bei de Gruyter veröffentlicht. Eine Folgekonferenz wird 2016 in Berkeley stattfinden.