Neugründung der Universität nach 1945?
Die deutsche Universität erlebte 1945 keine Stunde Null, keine Zäsur, die Neues von Altem trennte. Die Abschaffung des Führerprinzips in der Organisationsstruktur und das Zurück zu Beziehungen zwischen Hochschule und Staat, wie sie vor 1933 bestanden hatten, war mehr als eine Selbstverständlichkeit. Kein revolutionärer Akt der Erneuerung führte weg von den traditionellen Mustern einer Bildungsinstitution aus dem 19. Jahrhundert, die sich zunehmend wegentwickelt hatte von der ursprünglichen Idee der Universität als Korporation. Nicht 1945 müsste man ansetzen, um einen Einbruch in das traditionelle System aufzuzeigen, sondern Ende der 60er Jahre.
Ich will versuchen, eine Skizze des intellektuellen Profils der Universität Heidelberg zu zeichnen, die den Zeitgeist im Mikrokosmos einer deutschen Universität einzufangen und die zeitgegebenen Begrenzungen, aber auch die Chancen nach 1945 aufzuzeigen vermag.
Eine Universität lebt aus dem Kontrast individueller Charaktere. Die Generation des universitären Wiederaufbaus bestand aus Vertretern des akademischen Lebens, die in ihrer weitaus größten Mehrzahl aus der Zeit vor 1945 übernommen worden sind, ergänzt durch Hochschullehrer, die während der Nazizeit von ihren Ämtern suspendiert, zwangsemeritiert, herabgestuft, entlassen worden waren oder Lehrverbot erhalten hatten. Dieser Kreis republikfreundlicher Weimarer Hochschullehrer war gemessen an der Gesamtzahl klein, war meist in die innere Emigration gegangen und hatte so die NS-Herrschaft überlebt. Aus der Emigration kam nach Heidelberg niemand zurück, der zuvor hier gewesen wäre.
Entnazifizierung
Entnazifizierung – ein bis heute kontrovers rezipiertes Wort – wie wurde sie an der Heidelberger Universität durchgeführt? Kurz vor der Eröffnung der Medizinischen Fakultät im August 1945 wurde eine erste sehr oberflächliche Befragung durchgeführt, die nur wenig Aufschluss über das tatsächliche Verhalten im Nationalsozialismus gab. Eine zweite Siebung (screening) fand etwas später statt. Persönliche Befragungen zu den Unterrichtsgegenständen und zu den Publikationen wurden durchgeführt, Briefwechsel mit dem Propagandaministerium wurden eingesehen und Berichte von Eingeweihten, wie dem Gauleiter oder dem SS-Obergruppenführer Gustav Adolf Scheel herangezogen. Es zeigte sich, dass bei einigen (z.B. bei dem Neuhistoriker Andreas, dem Philologen Glaeser, oder bei Professor Seybold) wichtige Angaben fehlten, die die Nähe zum Nationalsozialismus hätten belegen können. Der amerikanische Geheimoffizier Penham beklagte, dass die Kooperationsbereitschaft zur Aufklärung der Vergangenheit in Heidelberg sehr gering sei im Vergleich z.B. zu Leipzig, und empfahl im Februar 1946 die vorläufige Schließung der Universität.
Schließlich gab es den Fragebogen, den alle Deutsche entsprechend dem Gesetz »zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus« vom 5. März 1946 ausfüllen mussten, also auch das Universitätspersonal. Was erfahren wir aus der nach dem Kriterium der formellen Zugehörigkeit zu Nazi-Organisationen zusammengestellten Liste? Die amerikanische Militärregierung (OMGUS) hat im Sommer 1946 eine Liste von Universitätsangehörigen zusammengestellt, die nach dem Entnazifizierungsgesetz als Nazis eingestuft werden mussten; Von insgesamt 359 Universitätsangehörigen - so weist das Archivmaterial zur amerikanischen Militärregierung aus - wurden 121 in diese Kategorie eingestuft, von 185 Professoren allein 72. Auf die fünf klassischen Fakultäten verteilten sich die als hauptschuldig oder als belastet Eingestuften unterschiedlich: jeder zweite Mediziner, jeder dritte Jurist, jeder vierte Naturwissenschaftler und jeder fünfte Angehörige der Philosophischen Fakultät. Auch die Universitätsspitze mit Rektor Bauer (Medizin) und Prorektor Ernst (Geschichte) wurde in die Liste der Belasteten eingetragen. Damit war jedoch nur gesagt, dass diese Personen im Verdacht standen und die Vermutungen geprüft werden mussten.
Nach Angaben des Rektors Karl-Heinrich Bauer reduzierte die Entnazifizierung den Lehrkörper um 60%; von den Verbleibenden waren zwei Drittel über 60 Jahre alt (New York Herald Tribune v. 17. März 1946). „Jetzt haben wir so wenig Professoren, dass wir alle Nichtnazis brauchen. Wir hoffen, die amerikanischen Behörden werden unseren Professoren Fehltritte vergeben« (Bauer).
Wie schleppend oder vertuschend das Verfahren der Entnazifizierung in Bezug auf das Heidelberger Hochschullehrerpersonal auch ausgefallen ist, es dürfte nicht wesentlich abweichen von den Verfahren in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Nach den formalen Kriterien der Zugehörigkeit zu NS-Organisationen sind einige ausgeschlossen worden, einige, die in ihren Schriften den Führerstaat priesen, konnten wieder lehren, diejenigen, die opponierten und ausgeschlossen worden waren, wurden wieder aufgenommen. Auch im Hochschulbereich bestand wie in der Verwaltung das Dilemma: Für den Wiederaufbau wurde Qualifikation benötigt, die unter den Unverdächtigten nicht in ausreichendem Maße vorhanden war.
Wiedereröffnung und Gründerzeit
Personell kann die Wiedereröffnung der Universität Heidelberg an dem ersten gewählten Rektor Bauer, dem Prorektor Ernst und dem spriritus rector Jaspers festgemacht werden. Institutionell an einem Kreis von dreizehn Professoren, der sich informell kurz nach dem Einmarsch der amerikanischen Truppen in Heidelberg gebildet hatte und die Wiedereröffnung vorbereitete.
Dieser Kreis umfasste nicht nur diejenigen, die in der NS-Zeit ausgeschlossen worden waren wie Radbruch, Weber, Jaspers und Regenbogen, sondern auch einige, die zumindest nicht negativ zum NS-Staat gestanden hatten wie Ernst und Bauer. Jaspers, selbst wie einige seiner Kollegen unter die Rassengesetze fallend (er war mit einer Jüdin verheiratet), reflektierte und analysierte die Zeit mit einer Radikalität und Aufrichtigkeit (»gegen den Nationalsozialismus bin ich politisch nicht aktiv gewesen, ich bin nie verhaftet worden«) wie kaum ein anderer. Offiziell Wahlsenator, kann er als spiritus rector des Wiederbeginns der Heidelberger Universität angesehen werden, auch wenn seine scharfsinnigen Zeitanalysen und oft radikalen Folgerungen nicht für die Gesamtheit der Universität stehen.
Die ersten gewählten Repräsentanten an der Universität Heidelberg nach 1945 waren Rektor Karl-Heinrich Bauer und Prorektor Fritz Ernst, die 1943 bzw. 1937 an die Universität berufen worden waren. Nach Rektor Bauer war die Nazi-Zeit ein Spuk, »eine mit den schillerndsten Lockungen lockendsten Lügen arbeitende wahrhaft mephistophelische Dämonie«. Kein Wort von ihm als Mediziner über Verfehlungen auch der Ärzte während der NS-Herrschaft, kein Wort von Rassenlehre, Rassenhygiene, Euthanasie und Versuchen an Menschen, Jaspers musste auf diese unmittelbare Vergangenheit hinweisen und diesen Geist der Unwissenschaftlichkeit geißeln.
Nur wenige gab es, wie den früheren Reichsjustizminister Radbruch, den Dozenten für Neurologie Mitscherlich oder den Kultursoziologen Alfred Weber, die eine konkretisierte Neuorientierung ihres Faches anstrebten und den demokratischen Anspruch ernst nahmen. Versuche zur Neuorientierung gingen vor allem von denjenigen aus, die unter der NS-Herrschaft zu leiden hatten. Radbruch hat Ende 1945 Leitsätze zur »Erneuerung des Rechts, zur Umschulung der deutschen Juristen«, niedergeschrieben, die als Kontrast zum NS-Unrecht angesehen wurden. Der Unrechtsstaat müsse von der »Herrschaft der Gesetze« abgelöst werden, der Rechtsstaat an seine eigenen Gesetze gebunden werden. »Der Rechtspositivismus, der jedem ordnungsmäßig entstandenem Gesetze den Charakter des Rechts und die Geltung zugestand«, müsse durch die Besinnung auf Menschenrechte und auf das Naturrecht seines gerechtigkeitsfeindlichen Charakters entkleidet werden.
Versäumnisse und Fehlentwicklungen
Doch kehren wir zurück zur Ausgangsfrage nach Kontinuität oder Erneuerung. Neue Wege konnten nur durch Verlassen alter beschritten werden. Zwei Wege der „Bewältigung“ der Vergangenheit sind begangen worden: Jener der Verdrängung (Generation der Betroffenen) und jener der Schuldzuweisung (jüngere Generation). Beide Wege haben nicht zu dem geführt, worauf es ankommt: Verarbeitung der Geschehnisse im Sinne der Folgerungen für die Gegenwart. Entscheidend sind Einstellung zum und Verhalten im demokratischen Staat. Hierfür sind die formalen Kriterien des amerikanischen Fragebogens sicherlich nicht ausreichend. Auch rechts stehende Kreise konnten den demokratischen Staat akzeptieren, ohne ein positives Verhältnis zu ihm zu finden, wie andererseits »Persilscheinbesitzer« traditionell obrigkeitsstaatliches Verhalten beibehalten konnten.
Nein, von einem Ende einer Tradition kann 1945 nicht die Rede sein. An der deutschen Universität hatte sich nichts geändert. Der Ordinarienbetrieb wurde wieder aufgenommen, Studenten galten als Objekte der Erziehung, wurden allenfalls in ihrer materiellen Notlage aufgefangen, sollten aber sonst füglich nach Wahrheit streben und Politik den Politikern und die Wirtschaft den Wirtschaftlern überlassen. Gewerkschaftliche Organisation wurde aus der Universität verbannt.
Als die Ruperto Carola zum ersten Male wieder zur deutschen Jugend sprach – natürlich durch den Mund des ersten Rektors – ja wem ging nicht das Herz auf, wenn er hörte: das alte Heidelberg, ehedem eine »Hochburg deutscher Demokratie«, finge neu wieder an. Hochburg also der Demokratie! Der Spuk von zwölf Jahren war vorbei, das reine Licht der Demokratie konnte wieder leuchten, so als ob nichts gewesen wäre! Einige Amerikaner sahen es anders. Als »Brutstätte der Reaktion« hatte ein Amerikaner die Universität bezeichnet.
Ein CIC-Agent namens Daniel Penham hatte, so berichtet die New York Herald Tribune im März 1946, ein Dutzend Heidelberger Professoren entlassen. Zu den Entlassenen gehörten der Dekan der Naturwissenschaftlichen Fakultät Karl Freudenberg, dem als Teilhaber einer Lederfabrik vorgeworfen wurde, an Görings Vierjahresplan mitgearbeitet zu haben.
Sogar der Rektor der Universität, Professor Dr. Karl Bauer, sei verdächtig und werde verhört. Der bekannte Chirurg habe 1925 ein Buch über Sterilisation geschrieben und als Privatdozent der Chirurgie über Rassenhygiene Vorlesungen gehalten. Von Universitätsseite wurden allerdings solche Vorwürfe zurückgewiesen.
Und die Studenten: war von ihnen ein Neuanfang zu erhoffen? In der Studentenschaft war im Allgemeinen ein großes Bedürfnis nach geistiger Orientierung vorhanden, und die Erwartungen an die Universitäten waren groß. Allein siebentausend Studenten wollten Medizin studieren, nur tausend Studienplätze gab es offiziell. Aus politischen Gründen sollte – so der Lehrkörper in der medizinischen und in der naturwissenschaftlichen Fakultät – niemand ausgeschlossen werden. Viele waren Kriegsteilnehmer und standen noch ganz im Banne des Nationalsozialismus. Von ihnen war ein Aufbruch zu Neuem nicht zu erwarten. Im Gegenteil: Auftritte von Niemäller in Erlangen, wo er unter studentischem Protest die Kriegsschuldfrage diskutieren wollte oder Jaspers und Spang in Heidelberg zeigten, wie nachhaltig Antisemitismus und Nazi-Ideologie noch wirkten. Dennoch, der Andrang zu Vorlesungen von Jaspers, Mitscherlich oder Weber war groß, der Wissensdurst wollte gestillt, die Vergangenheit so oder so verarbeitet werden. Kontinuität und Restauration sind, neben wenigen Versuchen zu einer Neuorientierung, die kennzeichnenden Züge des universitären Wiederaufbaus in Heidelberg wie anderswo in Deutschland. »Die Restauration der alten deutschen Universität von 1933 gelang nahezu perfekt« (Steiniger). Ein Elitenwechsel fand nicht statt, neue universitäre Organisationsmuster wurden nicht gefunden, eine demokratische Erneuerung im Sinne kollegialer Führung und Offenheit trat nicht ein. Demokratie war eher Lippenbekenntnis als erlebte Überzeugung.
von Frank Pfetsch
Prof. Dr. phil. Frank R. Pfetsch ist emeritierter Professor für Politische Wissenschaft
der Universität Heidelberg.
erschienen in un!mut no. 206: Themenheft zum Nationalsozialismus in Heidelberg vom 7. Juli 2010