Heinrich Hoffmann Ein humaner Arzt und „Gelegenheitsversemacher“

„Struwwelpeter“-Autor Heinrich Hoffmann setzte sich für Verbesserungen in der Psychiatrie ein

Heinrich Hoffmann

Suppenkasper, Zappelphilipp, Hanns Guck-in-die-Luft: Im deutschen Sprachgebrauch finden sich heute noch Wortschöpfungen aus Heinrich Hoffmanns „Struwwelpeter“. Das 1845 veröffentlichte und später in zahlreiche Sprachen übersetzte Kinderbuch machte seinen Schöpfer weltberühmt, aber die Schriftstellerei war nur dessen Hobby: Auf Wunsch seines Vaters wurde Heinrich Hoffmann Mediziner, wobei er die ersten sechs Semester seines Studiums in Heidelberg absolvierte. In seiner Heimatstadt Frankfurt am Main war der nicht nur literarisch vom Geist der Aufklärung geprägte politisch aktive Mediziner ärztlicher Leiter der städtischen Nervenheilanstalt und sorgte für dringend nötige Verbesserungen im Umgang mit psychisch Kranken, die er erstmals als Patient:innen behandelte – bis dahin hatten sie als arbeitsscheu, vom Teufel besessen oder kriminell gegolten und waren weggesperrt worden.

„Wenn ein Student in Heidelberg eben nicht viel arbeitet, soll man nicht ein strenges Urteil über ihn fällen. Es ist dort ein Verführen zum Müßiggang, zum Träumen, zum Herumflanieren, wie nirgends in Deutschland. Es ist die wunderbar herrliche Gegend, die milde Luft, die Wälder, die Täler, der Fluss, sie alle rufen: ‚Komm heraus, komm zu mir und wirf die Bücher in die Ecke!‘ Es ist und bleibt eine Sommeruniversität, und so ein verträumtes Semester ist für diese jungen Stadthocker in ihren engen, finsteren Heimatstraßen eine treffliche Kur, ein bleibender Gewinn und gefundenes frisches Leben."

Mit diesen Worten leitet der 1809 geborene und 1894 verstorbene Heinrich Hoffmann in seinen Lebenserinnerungen, die 1926 von seinem Enkel herausgegeben wurden, die Schilderung seiner sechs Semester in Heidelberg ein. Auf 14 Seiten gibt er – neben Exkursen über die politische Stimmung während dieser Jahre – Einblick in sein Heidelberger Studentenleben von 1829 bis 1832: Er erzählt von Ausflügen und anderen Erlebnissen mit Freunden, Kommilitonen und jungen Damen, berichtet von kuriosen Erfahrungen mit der Heidelberger Gastronomie und einem eiskalten Winter, in dem der Seziersaal geschlossen blieb, weil alle Objekte hart gefroren waren. Er schreibt auch über seine Vorlesungen und Professoren, zu denen beispielsweise der Chemiker Leopold Gmelin zählte, der als einer der bedeutendsten Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts gilt („Chemie lernt man nicht theoretisch durch Vorlesungen; in dem monotonen Vortrag Gmelins profitierte ich wenig“), oder Friedrich Tiedemann, der 33 Jahre lang der Direktor des Anatomischen Instituts war („ein genauer Demonstrator und unermüdlicher Erklärer; geistreich konnte man ihn nicht nennen, aber gründlich und klar“).

Als wir bei Neuenheim herumfuhren und nun die Alma mater und das stattliche Schloss vor uns lagen, da brachen wir in ein lautes Hurra aus

Heinrich Hoffmann

Hoffmanns erste Heidelberger Unterkunft, zwei „recht ärmliche Mansardenzimmer“ bei der Witwe des Schaffners Hahn, lag in der Märzgasse in der Nähe der Anatomie. Diese war zusammen mit Botanik, Chemie, Physik und Zoologie an der Ecke Hauptstraße/Brunnengasse im ehemaligen Dominikanerkloster untergebracht, das das Großherzogtum Baden 1804 erworben hatte und der Universität zur Verfügung stellte (1849 zog die Anatomie zusammen mit der Zoologie in ein neues Gebäude im Klostergarten, das heute als „Alte Anatomie“ bezeichnet wird und das Psychologische Institut beherbergt). Zu Beginn seines zweiten Semesters bezog Heinrich Hoffmann eine „Giebelstube mit kleiner Schlafdachkammer“ im am Neckar gelegenen Haus des Tapezierers Götzenberger. Er fertigte eine Zeichnung der Aussicht aus seinem Fenster an: Offenbar lag das Haus in der Nähe des Marstallhofs, denn auf der Zeichnung ist einer von dessen Türmen und die benachbarte Heuscheuer zu sehen. „Hier in diesem Hause wohnend, verlebte ich meine fröhlichen Studentenjahre“, schrieb Hoffmann.

Im Frühjahr 1832 wechselte er an die Universität Halle, an der er 1833 promoviert wurde. Nach einer Fortbildung in Paris kehrte Hoffmann 1834 in seine Heimatstadt Frankfurt zurück, wo er eine Anstellung als Leicheninspektor und praktischer Arzt fand. Gemeinsam mit anderen gründete er eine Armenklinik, unterrichtete Anatomie im Senckenbergischen Institut und übernahm 1851 die Leitung der „Anstalt für Irre und Epileptische“. Angesichts deren kerkerartiger Zustände fand der politisch engagierte Liberale, der Mitglied im Vorparlament zur Vorbereitung der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche war, sein eigentliches Lebenswerk jenseits des „Struwwelpeter“: Im Sinne der Aufklärungsmedizin setzte er sich für einen humanen Umgang mit psychisch Kranken ein, denen medizinisch zu helfen sei, anstatt sie wegzusperren. Auf sein Betreiben hin entstand vor den Toren Frankfurts, im heutigen Westend, eine damals hochmoderne psychiatrische Anstalt. Diese Heilanstalt, in der später Alois Alzheimer die erste Alzheimer-Patientin Auguste Deter behandelte und die man wegen ihres prächtigen neugotischen Baustils in Frankfurt „Irrenschloss“ nannte, wurde zum Modell für andere Psychiatriebauten. Hoffmann lebte dort selbst mit seiner Familie bis zur Pensionierung 1888.

Blick aus Hoffmanns Heidelberger Unterkunft, gezeichnet von ihm selbst

Im Jahre 1856 wurde der große Plan ernstlich in Angriff genommen; ich begann die wirkliche Arbeit für die Erbauung einer neuen Irrenanstalt.

Heinrich Hoffmann

Und wie kam es zum „Struwwelpeter“? Hoffmann veröffentlichte ab 1842 unter verschiedenen Pseudonymen Gedichte und Theaterstücke und war auch ein satirischer Gesellschaftskritiker und beliebter Festredner. In der Weihnachtszeit 1844 suchte er nach einem Kinderbuch für seinen dreijährigen Sohn, fand aber nur „lange Erzählungen oder alberne Bildersammlungen, moralische Geschichten, die mit ermahnenden Vorschriften begannen und schlossen“. Hoffmann war aber der Meinung, dass Kinder nur das begreifen, was sie sehen, und mit moralischen Vorschriften alleine nichts anfangen können: „Aber das Abbild des Schmutzfinken, des brennenden Kleides, des verunglückenden Unvorsichtigen, das Anschauen allein erklärt sich selbst und belehrt.“ So beschloss er, selbst kleine Geschichten für seinen Sohn zu schreiben und zu illustrieren, da er als Arzt bei Hausbesuchen kranker Kinder häufig zu deren Ablenkung kleine Bildergeschichten zeichnete – die beispielsweise zeigten, was passiert, wenn Kinder sich nicht Haare und Nägel schneiden lassen.

Der Struwwelpeter

Das Ergebnis gefiel nicht nur seinem Sohn, sondern auch Bekannten, so dass ein befreundeter Verleger anbot, die Geschichten zu drucken. Hoffmann sagte „in heiterer Weinlaune“ zu und das Büchlein, dessen erste 1.500 Exemplare – noch als „Lustige Geschichten und drollige Bilder“ unter dem Pseudonym „Reimerich Kinderlieb“ veröffentlicht – nach vier Wochen alle verkauft waren, wurde zum Überraschungserfolg und trat seinen Siegeszug um die Welt an. „Über den beispiellosen Erfolg des Struwwelpeters war ich selbst am meisten erstaunt“, schreibt Hoffmann. Er verfasste fünf weitere Kinderbücher, doch der Erfolg des „Struwwelpeter“ wiederholte sich nicht, was ihn nicht bekümmerte: „Ich habe mich nicht eigentlich für einen Dichter, sondern nur für einen Gelegenheitsversemacher gehalten; wenn es mir aber gelungen ist, guten Menschen, Alten und Kindern, frohe Stunden zu bereiten, so bin ich von Herzen zufrieden.“

Literaturhinweis

„Struwwelpeter-Hoffmann“ erzählt aus seinem Leben. Lebenserinnerungen Dr. Heinrich Hoffmanns, hg. von Eduard Hessenberg. Frankfurt/Main, Verlag Englert und Schlosser, 1926.

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