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Isabella Eckerle „Für ein Virus ist der Mensch nur ein Säugetier unter vielen!“

Die Medizin-Alumna Isabella Eckerle erforscht Coronaviren und Zoonosen

Medizin-Alumna Isabella Eckerle

Prof. Dr. Isabella Eckerle (*1980) leitet seit 2018 das Zentrum für neuartige Viruserkrankungen an der Universitätsklinik Genf (Schweiz). Die Spezialistin für zoonotische Virus-Erkrankungen forscht zu Coronaviren und beschäftigt sich unter anderem mit der Rolle von Kindern bei der Übertragung von SARS-CoV-2. Isabella Eckerle studierte von 2001 bis 2008 Medizin an der Ruperto Carola und forschte von 2005 bis 2007 als Doktorandin im Bereich Tumorgenetik am Deutschen Krebsforschungszentrum. Von 2008 bis 2010 arbeitete sie als Assistenzärztin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Klinischen Tropenmedizin und in der Nephrologie am Universitätsklinikum Heidelberg. 2011 wechselte sie an das Institut für Virologie des Universitätsklinikums Bonn, wo sie sich zur Fachärztin für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie ausbilden ließ und in der Forschungsgruppe des Virologen Christian Drosten arbeitete, der 2003 das erste SARS-Virus identifizierte.

Das Interview wurde im Juli 2021 geführt.

Frau Eckerle, wie kam es, dass Sie in Heidelberg studiert haben?

Ich komme aus der Nähe, nämlich aus Speyer, und schon als Jugendliche war Heidelberg für mich der Inbegriff der aufregenden Studentenstadt. Trotzdem habe ich erst einen kleinen Umweg genommen: Ich war in der Schule an vielen Dingen interessiert und habe mit einem Biologie- oder Tiermedizinstudium geliebäugelt, gleichzeitig habe ich mich aber auch für Sprachen und Journalismus interessiert. Ich konnte mich also gar nicht entscheiden und habe nach dem Abitur zuerst ein Jahr Publizistik In Mainz studiert. Aber dann haben Freunde von mir angefangen, Medizin zu studieren, und ich habe festgestellt, dass das doch das ist, was ich machen möchte. Also habe ich mich in Heidelberg beworben und war sehr glücklich, dass es geklappt hat!

Sie sagen, dass Heidelberg immer einen Platz in Ihrem Herzen haben wird – warum ist das so?

Heidelberg als Studentenstadt ist ja schon ein Klischee, aber ich habe meine Studienzeit einfach ganz toll in Erinnerung! Viele erinnern sich gerne an diesen Lebensabschnitt, aber ich finde auch Heidelberg als Stadt ganz besonders. Es ist einerseits eine eher kleine, beschauliche und sehr schöne Stadt, aber andererseits groß genug, dass man gut ausgehen kann, man kann auf die Neckarwiese oder hoch auf das Schloss, um ein Bierchen zu trinken – man hat dort einfach eine gute Lebensqualität! Auch das Studium selbst hat mir sehr gut gefallen, ich gehörte zu einer der frühen Gruppen, die den HeiCuMed-Studiengang absolviert haben, der damals sehr innovativ war und schon früh Dinge eingeführt hat, die mittlerweile in vielen Studiengängen Standard sind. Ich habe während meines Studiums auch viele gute Freunde gefunden, die teilweise in Heidelberg geblieben sind. Wenn ich bei meinen Eltern bin oder beruflich in der Gegend, dann versuche ich immer, einen Abstecher nach Heidelberg zu machen – und es hat mir auch in der Corona-Zeit gefehlt, dass ich nicht dort sein konnte.

Isabella Eckerle als Studentin

Wie sind Sie von Ihrem Interesse für Tiermedizin zur Humanmedizin gekommen?

Da ich mich ja für vieles interessiert habe, habe ich mich für Humanmedizin entschieden, weil man sich mit diesem Fach noch lange viele Möglichkeiten offenhalten kann. So hatte ich das Gefühl, ich mache nicht ganz viele Türen zu – beispielsweise hätte ich damit auch immer noch in den Journalismus gehen können. Die Humanmedizin bietet ein breites Grundwissen, von dem man profitiert, egal ob man später als Arzt oder in einem anderen Bereich arbeitet. Nach meinem abgebrochenen Studium in Mainz habe ich ein Pflegepraktikum gemacht und gemerkt, dass es mir großen Spaß macht, biologische Zusammenhänge zu verstehen, eingreifen zu können und zu schauen, wie sich ein Krankheitsverlauf verändert – das war total faszinierend. Ich war mir sicher, dass Medizin das Richtige für mich ist, und mir hat das Studium auch sehr viel Spaß gemacht.

Seite eines Kalenders, den Isabella Eckerle als Geschenk für die Heidelberger Tropenmedizin gestaltet hat

Ich bin dann trotzdem keine klassische Ärztin geworden, sondern bin in die Forschung gegangen, zu einem Thema, das von der klassischen Humanmedizin relativ weit weg ist, weil wir uns auch viel mit neuen Viren in Tieren beschäftigen. Eigentlich bin ich nun wieder da gelandet, wo früher meine Interessen lagen – diese Verknüpfung von Ökologie, Tierkrankheiten und Erregern an der Schnittstelle zwischen Mensch und Tier, also mit vielen Berührungspunkten zur Biologie und zur Tiermedizin.

 

Wie kam es, dass Sie sich mit Zoonosen beschäftigen, also mit Infektionskrankheiten, die wechselseitig zwischen Tier und Mensch übertragen werden können?

Gegen Ende meines Studiums habe ich eine Reise nach Kenia und Tansania gemacht und habe als Vorbereitung viel gelesen, insbesondere über Tropenkrankheiten. Ich fand es spannend, wie das Krankheitsgeschehen in anderen Klimazonen ist und wie beispielsweise Umweltfaktoren wie etwa Regenfälle Krankheitsgeschehen beeinflussen. Damals wusste ich nicht genau, in welche Richtung ich nach dem Studium gehen sollte, und bei dieser Reise habe ich festgestellt, dass die Infektionsmedizin an der Schnittstelle zum „One Health“-Ansatz, nach dem die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt eng miteinander zusammenhängt, genau das ist, was ich machen will. Mir hat auch gefallen, dass die Arbeit in diesem Bereich so interdisziplinär ist, dass man mit Leuten aus den Sozialwissenschaften, der Landwirtschaft oder der Klimatologie zusammenarbeitet. Daher wollte ich nach dem Studium gerne in Heidelberg in die Tropenmedizin zu Prof. Thomas Junghanss. Damals war dort zwar keine Stelle frei, aber ich habe Prof. Junghanss ständig in den Ohren gelegen, dass ich unbedingt dort arbeiten möchte – bis endlich eine Stelle frei war, die ich bekommen habe.

Was interessiert Sie an diesem Bereich der Medizin?

Ich finde es faszinierend, wie Gesundheit mit ganz vielen anderen Bereichen verknüpft ist. Die Arbeit in der Tropenmedizin, während der ich auch im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Control of Tropical Infectious Diseases“ in Burkina Faso war und dort bei einem Projekt mitgearbeitet habe, hat mir den Blick geöffnet: Im Humanmedizinstudium ist man sehr fokussiert auf den Menschen und auf die Medizin bei uns – die Tropenmedizin hat mir gezeigt, wie viel enger als bei uns in tropischen Ländern der Einfluss der Umwelt und der Einfluss von Tiererregern auf den Menschen sind. COVID hat nun deutlich gezeigt, dass wir auch in Europa und in Deutschland nicht so weit weg davon sind, wie viele glauben. Der breiten Öffentlichkeit ist nicht klar, dass Gesundheit nicht der Mensch und die Humanmedizin auf der einen Seite und das Tier und die Tiermedizin oder Ökologie auf der anderen Seite ist – tatsächlich ist alles eng miteinander verknüpft. Aus der Sicht eines Virus ist der Mensch nur ein Säugetier unter vielen, ihm ist es egal, ob es einen neuen Wirt in einem Schwein, einem Kamel oder einem Menschen findet. Und da wir nur ein Teil des gesamten Ökosystems sind, betrifft das, was in einem anderen Teil des Ökosystems passiert, natürlich auch uns. Ich glaube, dass man in Zukunft zur Prävention von Pandemien noch viel mehr in diesem Bereich arbeiten muss.

Isabella Eckerle und ihre Kollegin Annette Kapaun während eines Projektbesuchs in Burkina Faso
Großer muslimischer Feiertags in Nouna/Burkina Faso

Und das Interesse an diesen Fragen hat Sie auch in das Labor von Christian Drosten geführt?

Genau. Während meiner Zeit in der Tropenmedizin habe ich mich mit einer Studentin im Praktischen Jahr angefreundet, die damals im Rahmen ihrer Doktorarbeit mit Christian Drosten zusammengearbeitet hat. Wir sind zusammen auf einen Kongress zu Fledermäusen und neuen Infektionserregern gefahren, auf dem Christian seine Arbeit an Fledermauszellen vorgestellt hat, und ich dachte: In diesem tollen Labor will ich arbeiten! Auch dort war zunächst keine Stelle frei – ich habe die Stellen, die ich unbedingt haben wollte, erst durch eine gewisse Hartnäckigkeit bekommen, weil ich immer wieder nachgefragt habe! 2011 habe ich dort eine ärztliche Stelle in der Diagnostik angetreten, auf der ich meinen Facharzt in Mikrobiologie machen konnte, aber ich habe von Anfang an im Labor mitgearbeitet. Nach dem Facharzt habe ich meine eigene Arbeitsgruppe aufgebaut, in der ich mich vor allem mit Coronaviren beschäftigt habe.

Woran haben Sie während dieser Zeit geforscht?

Meine Arbeit hatte zwei Schwerpunkte: 2012 wurde erstmals das MERS-Coronavirus nachgewiesen, das vom Kamel auf den Menschen übertragen wird und das vor allem in Saudi-Arabien vorkommt. Dazu hat Christian Drostens Forschungsgruppe zusammen mit Partnern auf der arabischen Halbinsel geforscht, woran ich mitgearbeitet habe. Man wusste zunächst nicht, ob sich daraus eine Pandemie entwickeln könnte, aber es hat sich gezeigt, dass dieser ganz klassische zoonotische Erreger noch nicht „fit“ genug ist, um sich dauerhaft im Menschen halten zu können. Mein zweiter Schwerpunkt war der Aufbau von Fledermauszelllinien. Wir haben Proben von Feldbiologen bekommen, vor allem Kotproben und Abstriche, aber manchmal wurden dafür auch einzelne Tiere getötet, und ich habe ein Protokoll entwickelt, wie man deren Organe direkt im Feld konservieren kann, um daraus im Labor noch lebende Kulturzellen zu isolieren. Dadurch konnte man sie dauerhaft weitervermehren und darin Viren in ihrem natürlichen Wirt untersuchen. Als Christian Drosten Anfang 2017 an die Charité wechselte, bin ich aber nicht mitgegangen, weil ich nun nochmal etwas anderes ausprobieren wollte. Ich habe dann in Liverpool ein Diplom für Tropenmedizin gemacht und anschließend nochmal für ein Jahr in einem Privatlabor in Heidelberg gearbeitet, bevor ich mit meiner jetzigen Stelle in Genf dann doch wieder bei meiner „großen Liebe“, den neuartigen Viren, gelandet bin.

Glauben Sie, dass wir jemals wieder so leben werden wie vor Corona?

Es ist schwer, Vorhersagen zu treffen, denn das Feld der neuartigen Viren ist einfach unberechenbar und man wird immer wieder überrascht. Ich glaube aber, dass wir bei guten Durchimpfungsraten vielleicht nach diesem Winter den Punkt erreichen könnten, an dem Corona kein großes gesundheitliches Thema mehr sein wird – zumindest in Europa. Global gesehen wird Corona aber noch lange ein Problem bleiben, da viele Länder kaum Zugang zu Impfstoffen oder nur Impfstoffe haben, die eine weniger gute Immunantwort hervorrufen. Dieses Szenario begünstigt natürlich das Aufkommen von Mutanten: Wenn man viele Menschen mit geringer Immunantwort hat, bietet das dem Virus „Trainingsmöglichkeiten“, sich so zu entwickeln, dass es diese kleine Immunantwort auch noch überwindet. Diese Varianten sind einfach eine große Unbekannte – es ist das erste Mal in der Geschichte der neueren Medizin, dass man eine solche Eintragung eines neuen Erregers in einer Population auf einem derartigen Niveau hat. Wir haben keine Vergleichsgruppe, die zeigt, in welche Richtung es gehen könnte. Aber was man sagen kann: Die vier bekannten Erkältungscoronaviren sind relativ stabil, und man geht davon aus, dass sich bei SARS-CoV-2 wohl irgendwann ein Gleichgewicht einstellen wird zwischen einem Virus, das alle seine Tricks ausgereizt hat, und einer Immunität in der Bevölkerung. Das Virus wird zwar nicht verschwinden, aber es wird sich wahrscheinlich einreihen in die saisonalen Erkältungsviren. In der klinischen Medizin und der Virologie wird SARS-CoV-2 natürlich ein Thema bleiben, das wird sicher die Forschung der nächsten zehn bis 15 Jahre dominieren.

Das Coronavirus SARS-CoV-2

Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass ein anderes zoonotisches Virus noch einmal eine Pandemie auslöst?

Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass wir auch in Zukunft zoonotische Übergänge haben werden – ob es nochmal solche Auswirkungen geben wird, wird sich zeigen. Man kann nur hoffen, dass man die richtigen Schlüsse aus dieser Pandemie zieht, die ja für uns Wissenschaftler gar nicht so überraschend kam. Ich arbeite jetzt seit etwa zehn Jahren an diesem Thema und bei jeder Konferenz hieß es, dass es keine Frage ist, ob eine solche Pandemie kommen wird, sondern wann. Es gab zum Beispiel schon 2018 eine Publikation, dass man in China bei Menschen Antikörper gegen SARS-verwandte Viren in Fledermäusen gefunden hat. In der Forschung war schon relativ lange klar, dass es einen Pool an Viren gibt, die an der Schwelle sind, in den Menschen überzugehen, und viele haben darauf hingewiesen, dass wir unser Augenmerk darauf richten müssen. Leider gab es dafür nur wenig Aufmerksamkeit und daher wurden keine Maßnahmen getroffen.

Zoonosen entstehen dort, wo Ökosysteme zerstört werden und Menschen in Bereiche vordringen, in denen sie vorher nicht waren – etwa, wenn man den Regenwald abholzt, um Nutztierfarmen aufzubauen oder Ackerbau zu betreiben. Dann kommen Wildtiererreger mit dem Menschen oder auch mit Nutztieren in Berührung. Ein Verdächtiger als Entstehungsort von SARS-CoV-2 sind die sehr großen Pelztierfarmen in China. Man weiß, dass diese Tiere sehr empfänglich sind für solche Viren, wie man ja auch bei den vielen Infektionen in den Nerzfarmen in Europa gesehen hat. Da muss man sich natürlich fragen: Warum gibt es solche Farmen noch, wenn wir wissen, dass sie eine derartige Gefahr darstellen? Und wir wissen schon seit 2003, dass diese Tiere, wenn sie sich infizieren, eine Brücke zum Menschen bilden können. Das ist jetzt die spannende Hausaufgabe: Welche Schlüsse ziehen wir, um künftig solche Pandemien zu verhindern? Konsequenzen müssen aber natürlich international gezogen werden. Denn eine teuer erkaufte Erkenntnis konnten wir eigentlich schon vor Corona haben: Wir können nicht nur national denken, sondern wir müssen international denken – keiner ist sicher, solange nicht die ganze Welt sicher ist.

Welche Bilanz ziehen Sie bei der Reaktion von Politik und Gesellschaft auf die Pandemie?

Es gab vor der Pandemie einen „Pandemic Prepardness Index“, der Länder nach ihrer Fähigkeit und Kapazität listete, mit einer Pandemie umzugehen – dieser Index würde heute wohl etwas anders ausfallen. Beispielsweise standen die USA ganz weit oben, während andere Länder, die zumindest zunächst sehr gut durch die Pandemie gekommen sind, eher unten standen, etwa Vietnam. Ich glaube, dass sich keiner die globalen Auswirkungen einer Pandemie tatsächlich ausmalen konnte, dass es so lange dauert und im Prinzip jeder Bereich auf der Welt erschüttert wurde – auch nicht wir Coronavirologen. Auch mir war vorher nicht klar, wie stark viele Bereiche der Gesellschaft von einer Pandemie betroffen werden: die Schulen, die Wirtschaft, die soziale Ungleichheit. Diese Auswirkungen hatten wir Infektionsforscher zunächst gar nicht auf dem Schirm – und das war für mich auch die eindrücklichste Erfahrung!

Wir sind also alle mehr oder weniger überrascht worden, aber ich glaube, insgesamt und nicht nur in Deutschland kann man sagen, dass man die Lage nicht ernst genug genommen hat – und in dem Moment, in dem man es endlich verstanden hat, war es zu spät, um das Virus noch einzudämmen. Das ist in vielen Ländern passiert, aber was ich in Deutschland und auch in der Schweiz sehr schade fand: In der ersten Welle hat man sehr gut reagiert, die Leute waren sehr motiviert, alle haben mitgemacht und man hat das Infektionsgeschehen sehr schnell eingedämmt. Aber dann folgte eine Phase, in der man schon viel über das Virus wusste, zumindest genug, um sich auf den Herbst 2020 gut vorbereiten zu können, was aber nicht passiert ist, und dann hat sich vieles in eine ungute Richtung entwickelt. In einigen asiatischen Ländern, die schon Erfahrungen mit Pandemien wie SARS1 oder MERS hatten, hat es insgesamt viel besser funktioniert – und diese Länder hatten teilweise viel weniger Einschränkungen als wir. Die haben ihre Pandemiepläne aus der Schublade gezogen und es wurde gehandelt – da gab es keine Diskussionen, ob Masken nützen. Wenn nicht jede Maßnahme erst von Grund auf diskutiert werden muss, dann kann man natürlich auch schneller reagieren, und Schnelligkeit zahlt sich in so einem Fall aus.

Wie zufrieden sind Sie mit dem Umgang der Politik mit dem Rat der Wissenschaft?

Ich habe schon das Gefühl, dass man in der Politik oft lieber denen geglaubt hat, die gesagt haben, das wird schon alles nicht so schlimm, und man sich daher an Hypothesen geklammert hat, für die es keinerlei biologische Grundlage oder Daten gab. Da ist ein Ungleichgewicht entstanden: Auch Politiker müssen verstehen, was ein Konsensus in der Wissenschaft ist und dass es natürlich immer Einzelne gibt, die etwas anders sehen – aber dass das dann kein Verhältnis 50:50 ist, sondern eher 90:10, weswegen man besser auf die 90 hören sollte und nicht auf die 10. Das hat mich schon schockiert, dass Theorien, die keine Basis hatten, genauso ernst genommen wurden wie wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse, und dass zu wissenschaftlich vollkommen anerkannten Dingen wie PCR-Nachweismethoden kompletter Unsinn zirkulierte. Dadurch entstand in der Öffentlichkeit eine große Unsicherheit und ein Informationsdefizit. Da Wissenschaftler durch die unbegründeten Abwägungen und die Fehlinformationen aber teilweise sehr angefeindet wurden, wollten sich viele gar nicht mehr öffentlich äußern – auch mir ging das so. Das ist eine sehr schwierige Situation, für die wir auch gar nicht ausgebildet sind. Man muss in der Forschung künftig stärker ein Augenmerk darauf richten, wie man nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse kommunizieren, sondern auch der damit verbundenen Unsicherheit begegnen kann – denn wir bekommen ja oft vorgeworfen, dass wir etwas prognostiziert haben, was dann gar nicht eingetreten ist. Aber wir sind keine Hellseher, sondern wir können nur sagen: Es gibt diese Daten und diese Szenarien und diesen Unsicherheitsbereich – so funktioniert Wissenschaft.

Was ist Ihre ganz persönliche Bilanz der Pandemie – nehmen Sie auch etwas Positives mit?

Positiv nehme ich mit, dass sehr viele Menschen Rücksicht genommen und sich an die Einschränkungen gehalten haben, die waren nur nicht so laut wie die Gegner der Maßnahmen. Das darf man nicht vergessen, auch bei den Anfeindungen – das war nur ein kleiner Teil, die überwiegende Mehrheit ist dankbar für Informationen und nimmt sie auch an. Und für mich persönlich nehme ich die positive Erkenntnis mit, dass man auch in der Wissenschaft nicht so viel reisen muss, sondern vieles mit Online-Konferenzen erledigen kann, was nicht nur dem Klima nützt, sondern auch dem Familienleben. Ich finde es toll, dass ich mit meinem Baby auf dem Arm von zu Hause aus an internationalen Konferenzen teilnehmen kann, anstatt tagelang von zu Hause weg zu sein – ich hoffe, das ist etwas, was wir beibehalten!

(Das Interview führte Mirjam Mohr)