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Ursula Wölfel FACHFRAU FÜR PHANTASIE UND REALISMUS

Die Kinder- und Jugendbuchautorin Ursula Wölfel wäre 2022 100 Jahre alt geworden

Porträt Ursula Wölfel

Ein Junge, dem Blumen aus der Nase wachsen, weil er in selbiger nicht bohren will. Eine Familie von Rechthabern, die im Winter an einer Wegkreuzung zum eisigen Standbild mit ausgestreckten Zeigefingern und rollenden Augen einfriert, weil sie sich nicht über die richtige Richtung einig wird. Eine Frau, die ein kluges Buch schreiben will und stattdessen als Weltmeisterin im Bleistiftspitzen in der Zeitung landet – weil sie beim endlosen Nachdenken über den ersten Satz 6.512 Bleistifte kurz und klein gespitzt hat. Diese skurrilen Kurzgeschichten sind wie zahlreiche weitere der Phantasie der Kinderbuchautorin Ursula Wölfel entsprungen. Sie bilden aber nur einen kleinen Ausschnitt eines literarischen Werks „von ungewöhnlicher thematischer und formaler Vielfalt“, das 1991 mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises ausgezeichnet wurde. 2022 wäre Ursula Wölfel 100 Jahre alt geworden. Sie hat als junge Frau an der Universität Heidelberg studiert und wurde später eine der bedeutendsten und einflussreichsten deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuchautorinnen.

Mit ihren in den 1960er- und 1970er-Jahren erschienenen „Sechsundzwanzig winzigen Geschichten“, „Siebenundzwanzig Suppengeschichten“, „Achtundzwanzig Lachgeschichten“, „Neunundzwanzig verrückten Geschichten“ und „Dreißig Geschichten von Tante Mila“ hat sich Ursula Wölfel in die Herzen vieler Kinder dieser Zeit geschrieben, die die Kurzgeschichten später auch ihren eigenen Kindern vorlasen. Was aber wohl die wenigsten von ihnen wissen: Aus einer dieser Geschichten ging sogar die berühmte Maus aus der „Sendung mit der Maus“ hervor. Denn für seine 1971 erstmals ausgestrahlten „Lach- und Sachgeschichten“ hatte der WDR einige von Ursula Wölfels „Achtundzwanzig Lachgeschichten“ an verschiedene Grafiker:innen geschickt, darunter auch „Die Geschichte von der Maus im Laden“, die Isolde Schmitt-Menzel als Bildergeschichte mit orangefarbener Maus illustrierte. Der Trickfilmzeichner Friedrich Streich animierte diese Maus, die bei den Machern so gut ankam, dass aus den „Lach- und Sachgeschichten“ 1972 „Die Sendung mit der Maus“ wurde.

Doch Ursula Wölfels literarisches Werk umfasst weitaus mehr als die absurd-komischen kleinen Geschichten, die maximal eine Seite lang sind und häufig von ihrer Tochter Bettina liebevoll illustriert wurden. In den Jahrzehnten ihres Schaffens machte sie sich alle literarischen Gattungen zu eigen: von Kurzgeschichten und Gedichten über Skizzen zu szenischen Spielen, Fibeln und Sachbücher bis zu Theaterstücken und historischen Romanen, in denen sie Kindern die politischen und sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts oder den Alltag im Dritten Reich erklärte. Ihr Werk sei gekennzeichnet von einem „hohen Grad an Gegenwärtigkeit“, erklärte die Jury des Deutschen Jugendliteraturpreises, die ihr 1991 für ihr Gesamtwerk einen Sonderpreis verlieh, nachdem sie bereits 1962 für ihr viertes Buch „Feuerschuh und Windsandale“ ausgezeichnet worden war. „Sie ist im besten Sinn Zeitgenossin mit einem sicheren Gespür für aktuelle Probleme und Themen. Dass sie nie zur eigenen Epigonin wurde, die das Erfolgsrezept bis zum Überdruss wiederholt, ist ungewöhnlich.“

Buchcover: Wölfel, Siebenundzwanzig Suppengeschichten
Die „Ur-Maus“ der „Sendung mit der Maus“

Große Anerkennung erhielt vor allem Ursula Wölfels 1970 erschienene Geschichtensammlung „Die grauen und die grünen Felder“, in der sie in einfacher, klarer Sprache Kinder mit den schwierigen Seiten des Lebens konfrontiert – Streit oder Angst vor Alleinsein, aber auch Krieg, Alkoholismus, Intoleranz oder Rassismus. „Zum Aufbruch der Kinderliteratur in eine neue Phase des politischen Engagements und des literarischen Realismus’“ hätten diese Erzählungen „einen wichtigen Impuls gegeben und hohe Maßstäbe gesetzt“, erklärte die Jugendliteraturjury. Sie selbst erzählte, dass ihr kein anderes ihrer Bücher so wichtig gewesen sei: Nach vielen Phantasiegeschichten habe sie nun von realen Kindheitserlebnissen erzählen wollen und daher im Freundeskreis um Erinnerungen aus der Kindheit gebeten, die den Erwachsenen wichtig seien. Anders als erwartet kamen aber keine lustigen oder sehnsüchtig verklärten Rückblicke, sondern „ohne Ausnahme tiefernste frühe Lebenserfahrung“. Zur selben Zeit erhielt sie Berichte aus einem Friedensdorf für im Vietnamkrieg verwundete Kinder und von einer Freundin, die als Entwicklungshelferin arbeitete. „Durfte ich all das Kindern erzählen? Gewiss. Denn all das Schlimme hatten Kinder erlebt. Meine Texte fanden wie von selbst ihre Form: den lakonischen Bericht, der Abstand hielt und Gefühligkeit verbot. Wo Trost gebraucht wurde, versprach ihn das offene Ende der Kurzgeschichten. Es verleugnet nicht, was geschah, und öffnet doch einen Spalt breit die Tür für andere, glücklichere Möglichkeiten.“

Buchcover: Ursula Wölfel, Neunundzwanzig verrückte Geschichten

Sie schreibe deshalb so gerne für Kinder, weil sie großen Respekt vor ihnen habe, erklärte Ursula Wölfel: „Für Kinder muss man ganz anders schreiben als für Erwachsene. Natürlich könnte ich Sätze formulieren wie Thomas Mann. Aber ich versuche, alles ganz einfach und klar auszudrücken. Das erfordert vom Autor viel Disziplin. Er muss sich selbst immer wieder zurücknehmen.“ Zum Schreiben kam sie schon früh: Die 1922 als jüngstes von vier Kindern im Ruhrgebiet geborene Tochter eines Dirigenten und einer Lehrerin bekam von ihren Geschwistern früh das Lesen beigebracht und schrieb bereits als Kind. „Das lag auch ein bisschen in der Familie. Unsere Mutter war eine sehr phantasievolle Frau, die wunderbar erzählen konnte und viel Verständnis hatte für Spiele und für alles, was außer der Reihe getan wurde“, erzählte sie in einem Interview. „Dass ich überhaupt schreibe, hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass ich gern erzähle und das, was ich erlebt habe, in Wörter umsetze. Das ist durchaus ein Vergnügen, das ich mir selbst bereite.“

Für Kinder muss man ganz anders schreiben als für Erwachsene. Ich versuche, alles ganz einfach und klar auszudrücken.

Ursula Wölfel

Im Frühjahr 1942 kam Ursula Wölfel an die Universität Heidelberg, an der sie Germanistik, Philosophie, Psychologie und Geschichte studierte, 1943 heiratete sie den Architekten Heinrich Wölfel, der 1945 in Kriegsgefangenschaft starb. 1944 kam ihre Tochter Bettina zur Welt, so dass sie sich im Studium beurlauben ließ. Nach Ende des Krieges arbeitete sie als Schulhelferin, absolvierte eine Ausbildung zur Grundschullehrerin und war Assistentin am Pädagogischen Institut in Jugenheim an der Bergstraße. Von 1951 bis 1954 studierte Ursula Wölfel in Frankfurt am Main Germanistik, Kunstgeschichte und Pädagogik und arbeitet anschließend bis 1958 als Sonderschullehrerin in Darmstadt. Während dieser Zeit animierte eine befreundete Buchhändlerin sie zum Schreiben, so dass 1959 ihr erstes Kinderbuch „Der rote Rächer und die glücklichen Kinder“ erschien. Zu Beginn der 1960er-Jahre arbeitete Ursula Wölfel als akademische Mitarbeiterin des Instituts für Jugendbuchforschung, bevor sie sich, im Odenwald lebend, ganz dem Bücherschreiben widmete – mit durchschlagendem Erfolg und zum großen Gewinn vieler Kinder. Am 23. Juli 2014 starb sie im Alter von 91 Jahren nach kurzer schwerer Krankheit in Heidelberg.

(Erscheinungsjahr 2022)

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