Mai Ishizawa Zwischen Wirklichkeit und Fiktion
Eine Heidelberger Doktorandin sorgt mit ihrem Debütroman in Japan für Furore
Über Nacht erlangte Mai Ishizawa in ihrer Heimat landesweite Bekanntheit: Für ihren Debütroman erhielt sie im vergangenen Jahr zunächst den Gunzō-Nachwuchspreis und wenig später den Akutagawa-Preis, die bedeutendste Auszeichnung für japanischsprachige Schriftsteller. In Deutschland hingegen, wo sie seit 2017 lebt, kennt kaum jemand die Autorin – ein Umstand, der ihr durchaus entgegenkommt, denn lieber als der Rummel um ihre Person sind ihr Ruhe und Einsamkeit, die ihr Zeit für ihre Gedankenwelt und den Dialog mit sich selbst lassen – die Triebfedern ihres Schreibens. Auch möchte sie sich durch ihren plötzlichen Erfolg nicht ablenken lassen von ihrer wissenschaftlichen Arbeit, denn am Institut für Europäische Kunstgeschichte der Universität Heidelberg schreibt sie gerade eine Doktorarbeit über den deutschen Renaissance-Künstler Lucas Cranach den Älteren.
»Ich war völlig überrascht«, erinnert sich Mai Ishizawa an den Moment, als sie im Februar vor einem Jahr einen Anruf der japanischen Literaturzeitschrift »Gunzō« erhielt. »Und ich habe mich gefragt, ob das gerade real ist oder Produkt meiner Fantasie.« Sollte sie wirklich mit ihrem Erstlingswerk den bekannten Gunzō-Nachwuchspreis gewonnen haben? Mai lacht – ein kurzes, leises, ein belustigtes Lachen. Dass die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion verschwimmen, kennt die gebürtige Japanerin aus eigenem Erleben – etwa wenn die Kirschen im Neuenheimer Feld blühen und sie sich mit ihrem ganzen Sein in ihre Heimat zurückversetzt fühlt; nur dass die Details nicht stimmen, die Temperatur etwa, die Gerüche, die Atmosphäre. Ihre Erinnerungen aber und auch ihre körperlichen Reaktionen auf diese Erinnerungen sind so stark, dass unwillkürlich die Frage aufkommt: Was ist Wirklichkeit? Was Fantasie?
Ein Leben überwiegend in der Fantasiewelt ist Mai Ishizawa insbesondere aus ihrer Kindheit und Jugend vertraut. Mit drei Jahren erkrankt sie schwer an Asthma. Mit Freundinnen und Freunden zu spielen und unbeschwert zu toben – all das ist nicht mehr möglich. Zudem interessiert sie sich eher für Bücher als für Mode, aktuelle Dramaserien oder die gerade angesagten Schauspieler. Mai wird zur Außenseiterin – und das in einer Gesellschaft, in der es enorm wichtig ist, harmonischer Teil des großen Ganzen zu sein. Sie vergräbt sich in ihre Bücher, die ihr eine Parallelwelt voller Abenteuer eröffnen. Schon früh wächst in ihr der Traum, selbst einmal Schriftstellerin zu werden und so ihrer eigenen Gedankenwelt Ausdruck zu verleihen.
Als Grundschülerin stibitzt die damals Elfjährige das Buch »Die Verwandlung« von Franz Kafka aus dem Bücherregal ihrer Mutter. Bereits der erste Satz fesselt sie: ein Mann, der morgens aus einem Traum aufwacht und sich in ein »ungeheures Ungeziefer« verwandelt sieht. Was mag das für ein Traum gewesen sein, fragt sich Mai und kann nicht mehr aufhören zu lesen. Sie steigert sich derart in die Geschichte hinein, dass sie regelrecht krank wird und etliche schlaflose Nächte verbringt – »aus Angst, Traum und Realität nicht mehr auseinanderhalten zu können«. Die Mutter bemerkt schließlich Mais Zustand und verbannt vorerst alle Bücher Kafkas. Dennoch fördert sie die Leselust der Tochter und empfiehlt ihr Bücher von unterschiedlichen Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus der japanischen, aber auch aus der westlichen Literatur.
Plötzlich legten sich über diese Szenen Erinnerungen aus meiner Vergangenheit
Mai Ishizawa
Wie aber wird aus der zurückgezogenen Leseratte eine Schriftstellerin, deren Debütroman sofort Furore macht? Wieder schildert Mai Ishizawa einen surrealen Moment. März 2020, zu Beginn des allerersten Corona-Lockdowns: leere Straßenzüge, in denen sich normalerweise Passanten und Touristen tummeln, Menschen, die auf Abstand zu ihren Mitmenschen bedacht sind, leer gefegte Supermarktregale. Ihr Mann befindet sich nach einem beruflichen Aufenthalt in der Schweiz in Quarantäne, und so muss Mai die gespenstige Situation alleine verarbeiten. »Plötzlich legten sich über diese Szenen Erinnerungen aus meiner Vergangenheit.« Es sind Erinnerungen an die Zeit nach dem verheerenden Tōhoku-Erdbeben und dem Tsunami im März 2011, die sie in ihrer Heimatstadt Sendai miterlebte.
Inspiriert von der Macht ihrer Erinnerungen ebenso wie von der befremdlichen Gegenwart beginnt Mai zu schreiben: eine Geschichte über die Corona-Krise und das große Erdbeben, über die Verflechtung von Vergangenheit, dem Jetzt und der Zukunft sowie über die Bedeutung des Erinnerns. Innerhalb von nur vier Monaten stellt sie ihren Roman fertig und reicht ihn beim Gunzō-Nachwuchswettbewerb ein. Mit großem Erfolg, wie sie sechs Monate später erfährt, als sie schon nicht mehr mit Rückmeldung rechnet: Ihr Debütroman »Kai ni tsuzuku basho nite« (auf Deutsch: »Der Ort, der der Muschel folgt«) kann sich gegenüber 2.300 anderen eingereichten Werken durchsetzen. Aber damit nicht genug: Im selben Jahr, Mitte 2021, gewinnt Mai Ishizawa den Akutagawa-Preis, der für die japanische Literatur die gleiche Bedeutung hat wie der Deutsche Buchpreis hierzulande.
Ihr Kindheitstraum ist wahr geworden. Mai Ishizawa ist Schriftstellerin, und eine äußerst erfolgreiche dazu. Fast geht ihr das alles zu schnell: »Das Aufheben, das in Japan nach der Verkündung des Akutagawa-Preises um mich gemacht wurde, fand ich schwer zu ertragen.« Bisher habe sie eher im Hintergrund gestanden, im Schatten. Das Licht des Erfolgs sei ihr zu grell. Um ihre Privatsphäre zu schützen, schreibt Mai unter einem Pseudonym, das auch in diesem Artikel verwendet wird. Und dass in Deutschland nur wenige von ihrem Erfolg wissen, ist ihr nur recht. »Ich möchte den Menschen auf Augenhöhe begegnen und nicht von ihnen auf ein Podest gehoben werden.« Ohnehin: Zwar schreibt sie seit ihrem Durchbruch monatlich Essays für die Zeitung »Kahoku Shimpō« ihrer Heimatstadt Sendai, ansonsten aber konzentriert sie sich aktuell auf die Fertigstellung ihrer Dissertation. Erst im Anschluss möchte sie sich voll und ganz der Schriftstellerei widmen. An Ideen dürfte es ihr dabei nicht mangeln: »In meinem Kopf befindet sich eine Art Gemäldegalerie mit vielfältigen Landschaften, die mich mit Inspirationen speisen.«
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