Speziell für Studieninteressierte: Heidelberger Profil der Germanistischen Sprachwissenschaft
Sprache begegnet uns in unserer Alltagswelt nicht nur in gesprochener und geschriebener Form, sondern auch in unterschiedlichen medialen Kontexten – oft in Kombination mit Bildern, Videos und anderen Ausdrucksmitteln. Sprache ist leiblich verankert und spielt eine zentrale Rolle in unserem Denken, Fühlen und Handeln. Angefangen bei den kleinsten sprachlichen Einheiten über Wörter, Sätze, Texte und Gespräche bis hin zu größeren Diskursen beschäftigt sich die Heidelberger Sprachwissenschaft mit dieser Fülle sprachlicher Phänomene in unterschiedlichen sozialen, historischen und medialen Kontexten. Zu unseren Forschungs- und Lehrschwerpunkten gehören unter anderem:
- die Semantik, d.h. die Lehre von der sprachlichen Bedeutung. Dabei interessieren wir uns nicht nur für die abstrakte ‚Wörterbuch‘-Bedeutung sprachlicher Zeichen wie z.B. Frau, Nation, Betroffenheit, mauscheln, krass und den Wandel sprachlicher Bedeutung im Laufe der Zeit. Wir fragen darüber hinaus nach den sozio-kulturellen, politischen, ideologischen und historischen Konstellationen, in denen Menschen in Texten und Gesprächen Bedeutung hervorbringen, verändern, über Bedeutungen streiten und diese zur Durchsetzung spezifischer Interessen funktionalisieren. Damit schlagen wir von der Semantik zugleich die Brücke zu weiteren Schwerpunkten vor Ort.
- die Pragmatik, die sich mit unserem Sprachgebrauch in konkreten Handlungszusammenhängen beschäftigt. Sie betrachtet Sprechen und Handeln nicht als getrennte, sondern als eng miteinander verbundene Phänomene. Wenn wir miteinander sprechen, dann tun wir zugleich etwas: wir agieren und mehr noch, wir interagieren. Die Pragmatik untersucht, wie verbale Interaktion zwischen Menschen im Alltag (z.B. Klatsch, Streit, Markteinkauf), in Institutionen (z.B. Schulunterricht, Arzt-Patienten-Kommunikation, Psychotherapie) und in den Medien abläuft, wie sie strukturiert ist und welchen übergreifenden Ordnungsmustern sie folgt. In Heidelberg beziehen wir über die Sprache hinaus auch nonverbale Aspekte (Gestik, Mimik, Blick usw.), den Gebrauch von Objekten, Medien und Technologien in die Untersuchung mit ein.
- die Grammatik, d.h. die Beschreibung der formalen, strukturellen Eigenschaften der Sprache und den allgemeinen Regeln der Verknüpfung sprachlicher Einheiten. Anders als Laien, die unter Grammatik oft ein normatives Nachschlagewerk verstehen, in dem lehr- und lernbare Regeln (richtig/falsch) niedergelegt sind, fragt die Grammatik als linguistische Teildisziplin danach, wie bestimmte Strukturen entstehen, welche Funktionen sie ausüben, wie und warum sich Formen und Funktionen verändern und je nach Kontext variieren können. Die moderne Grammatik betrachtet Sprache als flexibles, adaptives System, das aus den kommunikativen Bedürfnissen der Sprecherinnen und Sprecher hervorgeht und sich verändert, und sie formuliert Theorien, die erklären, warum heute z.B. die Konjunktion obwohl in Sätzen wie „ich komme zur Uni, obwohl ich krank bin“ und in Sätzen wie „ich komme zur Uni, obwohl – ich bin krank“ vorkommen und je nach Stellung des Verbs (sein) Unterschiedliches bedeuten: Im ersten Fall schleppt sich die Sprecherin zähneknirschend zur Uni, im zweiten Fall revidiert sie ihre Entscheidung und kuriert sich aus. Von diesen grammatischen Beobachtungen aus lassen sich Verbindungslinien zur Semantik (sprachliche Bedeutungsunterschiede der beiden obwohl-Sätze), zur Pragmatik (sprachliches Handeln mittels unterschiedlicher obwohl-Sätze), aber auch zur Sprachgeschichte, Text-, Diskurs- und Korpuslinguistik ziehen.
- die Sprachgeschichte, der in unterschiedlichen Ausprägungen nachgegangen wird. So beschäftigt sich die Historische Sprachwissenschaft mit Phänomenen des Sprachwandels in der Grammatik, im Wortschatz und in der Pragmatik (s.o.). Sie fragt danach, wie es dazu kommt, dass z.B. die grammatische Einheit -te in er lach-te aus dem Vollverb tun entstehen und zu einer bloßen Endung ‚runtergekocht‘ werden konnte. Durch solche Grammatikalisierungsprozesse entstehen über die Jahrhunderte hinweg ständig neue grammatische Formen, die die Sprachstruktur in fundamentaler Weise verändern können – eine Frage, die wiederum die Grammatik interessiert (s.o.). Sprachwandel vollzieht sich aber nicht in einem sozialfreien Vakuum, sondern ist in sozio-kulturelle, religiöse, politische und ökonomische Entwicklungen einbettet. Für diese Zusammenhänge interessiert sich besonders die kulturhistorisch orientierte Sprachgeschichtsforschung. Sie untersucht z.B. den Zusammenhang zwischen der Entstehung der Nation und der Herausbildung einer allgemein verbindlichen Standardsprache, oder den Einfluss von Demokratisierungsprozessen auf Veränderungen im Anredesystem, im Gebrauch von Gruß- und Höflichkeitsformeln.
Weitere Heidelberger Schwerpunkte sind
- die Textlinguistik und Diskursanalyse – auch mit korpuslinguistischen Methoden
- die Fachkommunikation in der Medizin, Wirtschaft und im Recht
- die multimodale Konversations- und Interaktionsanalyse
- die Linguistische Sprachkritik im europäischen Vergleich.
Die Textlinguistik geht der Frage nach, was einen Text zum Text macht, wie Texte klassifiziert werden können und welche Muster bestimmten Textsorten zugrunde liegen. Unter einem Diskurs versteht die Linguistik eine (textförmige) Menge von Aussagen zu einem bestimmten Thema; große digitale Sammlungen solcher Texte heißen Korpora.
Die Varietäten- und Soziolinguistik beleuchtet die Vielfalt an sprachlichen Varietäten und Stilen innerhalb der deutschen Sprache (z.B. Dialekte, Fachsprachen). Verschiedene außersprachliche Faktoren wie der situative Kontext oder das Alter beeinflussen unser sprachliches Verhalten und die Wahl bestimmter Ausdrücke.
Die multimodale Konversations- und Interaktionsanalyse rückt das Zusammenspiel gesprochener Sprache mit leiblichen Ausdrucksmitteln in den Vordergrund und weist daher viele Berührungspunkte mit der Pragmatik auf. Einen besonderen Schwerpunkt bildet bei uns die Untersuchung redebegleitender Gesten und das Blickverhalten der Beteiligten.
Die Linguistische Sprachkritik versteht sich als Form der Reflexion von Sprache und Sprachgebrauch und stellt einen Beitrag zur Sprachbewusstheit und Sprachbewusstseinsgeschichte dar. Ihr Ziel ist es, Wörter, Texte und andere sprachlichen Gebilde unter Berücksichtigung von Sprachhandlungskontexten sowie nach Kriterien der Angemessenheit und des Gelingens wissenschaftlich zu beurteilen.