Der St. Galler Klosterplan
Blaupause, Idealplan oder Schulübung?
Herr Jonas Narchi M.A. spürt in einer kleinen Ausstellung den Geheimnissen des Klosterplans nach und fragt nach Herkunft, Datierung und Charakter dieses einzigartigen Dokuments.
Übersicht
1) Steckbrief: Der St. Galler Klosterplan auf einen Blick
2) Das Geheimnis des St. Galler Klosterplans: Blaupause, Idealplan oder Schulübung?
3) Den Mönchen über die Schulter gucken: Was verrät der Klosterplan über seine Entstehung?
4) Zwei Hände am Werk: Wer schrieb den St. Galler Klosterplan?
5) Parsley, sage, rosemary and thyme: Ein Einblick in die Realien des Klosterplans
Datierung: |
ca. 825/826 n.Chr. |
Entstehungsort:
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Kloster Reichenau, Bodensee |
Aufbewahrungsort:
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St. Gallen Stiftsbibliothek, Schweiz |
Signatur:
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Cod. Sang. 1092 |
Maße:
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ca. 112 x 77.5 cm |
Material:
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fünf Stücke Schafspergament, beschrieben mit dunkler und heller brauner und roter Tinte, zusammengebunden mit Seidenfäden |
Inhalt:
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Widmungsbrief, Plan einer Klosteranlage mit 52 Gebäuden und 333 lateinischen Tituli (sowie ab 12. Jh. Kopie der Vita beati Martini episcopi des Sulpicius Severus auf Rückseite und Rasur unten links auf Vorderseite) |
Schrift:
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Hand in alemannischer Minuskel (wahrsch. Reginbert von der Reichenau)
Hand in karolingischer Minuskel (wahrsch. Walahfrid Strabo) |
hochauflösendes Digitalisat des St. Galler Klosterplans: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 1092: St. Galler Klosterplan (https://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/csg/1092).
2) Das Geheimnis des St. Galler Klosterplans: Blaupause, Idealplan oder Schulübung?
Seit der ersten Reproduktion des Klosterplans von 1704 reißt der fachliche Diskurs um dieses beeindruckende Zeugnis karolingischen Kultur nicht ab. Dabei sind schon Autorenschaft, Werkintention und die Frage, um was es sich bei dem Plan eigentlich handle, umstritten. Ab dem 19. Jahrhundert wurde der Plan oftmals als Blaupause für den Bau eines Klosters interpretiert. Dies gab Anlass zu zahlreichen ‚Übersetzungen‘ in Architekturzeichnungen wie der obigen von 1876, die Georg Lasius selbstsicher mit Monasterium Sancti Galli titulierte. War dies wirklich eine für die Umsetzung geplante Blaupause, zumal kein vergleichbares karolingisches Kloster je existierte? Oder ist dies der Idealplan eines Klosters, das es so nie gegeben hat? Sollte der Plan vielmehr die Umsetzung eines idealen Lebens nach der Benediktsregel illustrieren? Oder diente er wiederum als Übung im Kontext der Klosterschule und der karolingischen Gelehrtenwelt? |
Der Widmungsbrief
Wichtige Hinweise gibt der Widmungsbrief am oberen rechten Rand des Plans:
Transkription: „Haec tibi dulcissime • fili cozberte de positione officinarum paucis exemplata direxi • quibus sollertiam exerceas tuam meamque deuotionem utcumque cognoscas • […] Ne suspiceris autem me haec ideo elaborasse • quod uos putemus nostris indigere magisteriis • sed potius o<b> amorem dei • tibi soli perscrutinanda pinxisse amicabili fraternitatis intuitu crede • Uale in christo semper memor nostri • amen •“
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Übersetzung: „Dir, liebster Sohn Gozbert, habe ich diese knappe Aufzeichnung einer Anordnung der Klostergebäude geschickt, damit du daran deinen Scharfsinn üben und jedenfalls meine Anhänglichkeit erkennen mögest. […] Vermute aber nicht, ich hätte das deshalb ausgearbeitet, weil wir meinen, ihr bedürftet unserer Belehrungen; glaube vielmehr in freundschaftlicher Ansehung unserer Brüderlichkeit, dass wir es aus Liebe zu Gott und für dich allein zum Studium gemalt haben. Leb wohl in Christus und bleib unser stets eingedenk. Amen.“ Übers. Berschin (leicht verändert) |
Zwei wichtige Erkenntnisse aus dem Brief:
- Er ist an einen Gozbert in St. Gallen gewidmet, womit Abt Gozbert (amt. 816-837) gemeint sein kann, aber auch sein gleichnamiger Neffe, ein Mönch ebda., der sich sehr für die Rezeption lateinischer Literatur in St. Gallen einsetzte
- Er erwähnt abgesehen von dem Überblick über die Lage der Gebäude eines Klosters keinerlei Absicht eines Baus, sondern betont, dass man durch das gründliche Studium des Plans einen Scharfsinn schulen soll.
Die vielen Namen der Toilette: Synonyme im Klosterplan |
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Dass der Klosterplan vor allem auch der Bildung eines reichen Wortschatzes nach dem antiken ideal der copia verborum diente, ist an den lateinischen Tituli zu erkennen, mit denen die Gebäude beschriftet sind: Von 333 dieser Beischriften sind in insgesamt 104 Synonyma eingearbeitet, sodass der Leser das Vokabular für die Beschreibung seiner Lebenswelt bereichern kann. So finden sich allein für die Toiletten des Klosters u.a. folgende synonyme Bezeichnungen:
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Wie man sich bettet, so liegt man: Soziale und semantische Differenzen |
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Nicht nur Synonyme können das Vokabular bereichern, auch die Unterscheidung von Bedeutungsnuancen verschiedener Wörter, wie sie z.B. in dem De differentiis Isidors von Sevilla entwickelt werden, war Kennzeichnen hoher sprachlicher Bildung. An den Begriffen, die der Klosterplan z.B. für Schlafräume verwendet, lässt sich erkennen, dass hier gezielt semantische Differenzen aufgegriffen wurden, die nicht zuletzt soziale Abstufungen durchscheinen lassen:
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3) Den Mönchen über die Schulter gucken: Was verrät der Klosterplan über seine Entstehung?
Auch oder gerade dann, wenn sich in den Quellen keine sekundären Berichte über den Entstehungskontext einer Handschrift finden lassen, können paläographische und kodikologische Untersuchungen des Manuskripts dazu dienen, diese zu rekonstruieren.
Nimmt man Materialität des Werkes und formale Aspekte der Schrift(en) buchstäblich unter die Lupe, gelingt unter Umständen die Zuordnung zu einer Epoche, einer Region und in manchen Fällen sogar einem bestimmten Skriptorium und / oder einem identifizierbaren Schreiber… | |
Bearbeitung des Pergaments |
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Der Plan wurde auf der Fleischseite des Schafspergaments gezeichnet. Diese wurde zunächst mit einem gezahnten Schabeisen geglättet und dann sorgfältig mit einem Bimsstein aufgerauht. Teilweise sind auf dem Klosterplan noch feine Kratzspuren zu erkennen: |
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Vorzeichnungen und Zeichnungen |
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Der Grundriss wurde mit der Feder in roter Tusche gezeichnet. Bei genauerem Hinsehen lassen sich ein helleres und ein dunkleres Rotpigment unterscheiden, wobei letzteres häufig dicker und über die helle Tusche aufgetragen wurde. An manchen Stellen, wo noch die helle Tusche von der der dunklen abweicht, lässt sich erkennen, dass dies getrennte Arbeitsphasen waren: | |
Zusammenfügung der Pergamentstücke |
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Die Anordnung der fünf Pergamentstücke sowie die Art und Weise, wie sie sich überlappen und mit Nähten verbunden wurden, erlauben es, den Entstehungsprozess des Klosterplans nachzuvollziehen: Im ersten Arbeitsschritt wurde das Mittelstücke aus den Blättern 1, 2 und 3 (siehe Schaubild) zusammengefügt, wobei ein dicker weißer Faden verwendet wurde, der durch je ca. 1,3mm entfernte Heftlöcher gefädelt wurde: |
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Im zweiten Arbeitsschritt wurden die Streifen 4 und 5 gemeinsam oben und unten an das Mittelstück angefügt. Dass dies in einem späteren Schritt geschah, zeigt der Unterschied des obigen zu dem hier verwendeten Faden, der dünner ist, aber auch der Umstand, dass die Heftlöcher in größerem Abstand von ca. 2mm gestochen wurden: |
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4) Zwei Hände am Werk: Wer schrieb den St. Galler Klosterplan?
Lange Zeit stand nur fest, dass der Klosterplan dem Reichenauer Skriptorium entstammte, ohne dass die zwei distinkten Hände – eine in
alemannischer und eine in karolingischer Minuskel – genauer identifiziert werden konnten. Seitdem ist es aufbauend auf grundlegenden Forschungen B. Bischoffs und W. Berschins gelungen, die Schreiber des Klosterplans durch den Vergleich mit anderen Handschriften aus dem Reichenauer Kontext zu ermitteln. So identifizierte N. Maag den alemannischen Schreiber des Planes als den Bibliothekar Reginbert von der Reichenau. T. Licht gelang es sodann, den karolingischen Schreiber mit dem Reichenauer Mönch und Dichter Walahfrid Strabo zu identifizieren. Durch diese Zuordnung ist nun auch der Entstehungszeitraum des Klosterplans genauer auf 825/826 n. Chr. einzugrenzen.
Merkmale der Hand Reginberts
Langer Schulterstrich des r, unter den der nächste Buchstabe angeschlossen wird: | |
Verwendung einer charakteristischen Littera i subscripta bei l: | |
Doppelstöckiges e in Ligatur mit nachfolgendem Buchstaben wie z.B. n oder s | |
Merkmale der Hand Walahfrids
Punktiertes y im Mittelband | |
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Doppelform des a offen und unzial, letzteres manchmal oben geöffnet und/oder ausgezogen | |
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Auffällig hohler bzw. geschlaufter Schaft bei geradem d | |
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5) Parsley, sage, rosemary and thyme: Ein Einblick in die Realien des Klosterplans
SALVIA.
Lelyfagus prima praefulget fronte locorum
Dulcis odore, gravis virtute atque utilis haustu.
Pluribus haec hominum morbis prodesse reperta
Perpetuo viridi meruit gaudere iuventa.
Salbei.
Leuchtend blüht der Salbei ganz vorn am Eingang des Gartens,
Süß von Geruch, voll wirkender Kräfte und heilsam zu trinken.
Manche Gebresten der Menschen zu heilen, erwies er sich als nützlich,
Ewig in grünender Jugend zu stehen, hat er sich verdient.
Walahfrid Strabo, De cultura hortorum, v. 76-79, Übers. Berschin
Der Klosterplan ist von anhaltender Bedeutung für die Realienkunde des frühen Mittelalters, weil er zahlreiche Details aus dem Alltag festhält, die einen Einblick in Medizin und Wirtschaft karolingischer Klöster geben. So z.B. im Fall der Gärten: Neben einem Obstgarten sowie einem großen Nutzgarten (hortus) zum Gemüseanbau, kennt der Klosterplan auch einen separaten Kräutergarten (herbularius) nahe des Ärztehauses. 16 Pflanzen mit therapeutischer Wirkung wurden hier eingetragen:
1. saluia – Salbei 2. sisimbra – Krauseminzen 3. ruta – Raute 4. cumino – Kümmel 5. gladiola – Schwertlilie 6. lubestico – Liebstöckel 7. pulegium – Poleiminze 8. fenuclum – Fenchel 9. fasiolo – Stangenbohne 10. sataregia – Pfefferkraut 11. costo – Frauenminze (Marienblatt) 12. fenegreca – Griechisch Heu 13. rosmarino – Rosmarin 14. menta – Minze 15. lilium – Lilie 16. rosas - Rosen |
Auffällig ist, dass diese Namen fast wörtlich aus dem Capitulare de villis, einer Verordnung Karls des Großen, die u.a. Listen der zum Anbau empfohlenen Pflanzen enthält, übernommen wurden – in manchen Fällen sogar in der dortigen Akkusativform statt im casus rectus (z.B. rosas statt rosae). Dies zeigt der Vergleich mit der einzigen erhaltenen Handschrift des Capitulare (Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 254 Helmst.).