Die rätische Minuskel
Frau Judith Mania M.A. hat in einer kleinen Ausstellung, die Sie hier in elektronischer Form sehen, Zeugnisse der frühmittelalterlichen Schriftkultur im Bistum Chur zusammengestellt und diese in die Entwicklung der Regionalschriften im Frühmittelalter eingeordnet.
Regionalschriften des frühen Mittelalters
Im 7. und 8. Jahrhundert befindet sich die abendländische Schriftkultur im Umbruch, es entwickeln sich regional teils sehr verschiedene Minuskelschriften, die sog. Regionalstile.
Die Insulare Schrift
London, British Library, Cotton, Ms. Nero D. IV, fol. 34r (Evangeliar von Lindisfarne). Der Haupttext ist in insularer Majuskel geschrieben, die Anmerkungen am Seitenrand und zwischen den Zeilen in insularer Minuskel.
Die Luxeuilminuskel
Paris, BNF, lat. 9427, fol. 143r. Das sog. Doppel-c-a hat die Form zweier dicht beieinanderstehender c (Z. 2 audivi, die markante g-Form ist oben geschlossen (Z. 4 magni), t ist links geschlossen (Z. 3 nostro).
Die Corbieminuskel
Brüssel, Bibliothèque Royale, 9850-52, fol. 143r. Kennbuchstaben sind das nach recht geöffnete a (Z. 1 adiuvare) sowie das b mit Ligaturansatz am Schaft (Z. 3 bonorum).
Die Chellesminuskel
Montpellier, Bibliothèque de la Ville, 3, fol. 2v. Der sog. b-Typ von Chelles weist das gleiche b auf, wie die Corbieminuskel, das a ist jedoch nicht nach rechts geöffnet (Z. 1 beatissime).
Die alemannische Minuskel
Vom Bodenseeraum bis nach Bayern, mit wichtigen Schreibzentren in St. Gallen und auf der Reichenau, entwickelt sich die alemannische Minuskel, die sich vor allem durch den Gebrauch der liegenden nt-Ligatur in Wortmitte auszeichnet
St. Gallen, Stiftsbibliothek, 44, p. 26. Neben doppel-c-a tritt auch die unziale Form auf (Z. 2 haec), liegende nt-Ligatur in Wortmitte (Z. 3-4 contaminationi[bus]). Das g ist 3-förmig und leicht schräg (Z. 8 ego).
Die Beneventana
Im Süden Italiens schreibt man rund um die Zentren Montecassino und Bari die Beneventana, deren Verbreitungsgebiet bis ins heutige Kroatien reicht.
Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Hist. 6, fol. 139r. Schriftmerkmale der Beneventana sind neben dem links geschlossenen t (Z. 2 catulo) auch das sich langsam zur sog. oc-Form schließende a (Z. 5 pamphilia), sowie das e, das über die Zeilenmitte hinausragt (Z. 2 lepido).
Schriftkultur im Bistum Chur im frühen Mittelalter
Die rätische Minuskel
Auch Churrätien verfügt im späten VIII. und frühen IX. Jahrhundert über einen eigenen Regionalstil, die sog. rätische Minuskel.
St. Gallen, Stiftsbibliothek, 350, p. 135 (Vita Lucii, Lebensbeschreibung des Churer Bistumsheiligen Lucius). Hauptmerkmal der rätischen Minuskel ist das geschlossene t, das in drei Zügen geschrieben wird, was zu einer Lücke zwischen geschlossenem Teil und Deckbalken führt (Z. 3 beatissimi). Aufgrund von Leseschwierigkeiten wurde der geschlossene Teil in dieser Handschrift ausradiert, als sie in ein anderes Kloster gelangte (Z. 5 tenebra[rum]). Das g ist 3-förmig, unten geöffnet und läuft am Kopf in einen Ligaturansatz aus (Z. 5 caligine).
Die blitzförmig gezackten Schäfte, die vereinzelt bei Auszeichnungsbuchstaben auftreten, sind typisch für den rätischen Raum.
St. Gallen, Stiftsbibliothek, 348, p. 33 Einsiedeln, Stiftsbibliothek, 304, p. 70.
Müstair, Benediktinerkloster St. Johann, XX 48/Nr. 1, p. 3.
St. Gallen, Stiftsbibliothek, 350, p. 19 (Sacramentarium Gelasianum). Die Auszeichnungsschrift ist oft in Minium (einem rötlichen Mineral) geschrieben (Z. 1 in esaia), oder farbig hinterlegt (Z. 10 in hieremia VI audi israel). Beliebt ist auch das N mit Balkenfuß (Z. 1 in).
Auffällig ist eine immer wiederkehrende Tierform, die Initialen, Auszeichnungsbuchstaben, oder die Lagensignaturen rätischer Handschriften schmückt.
St. Gallen, Stiftsbibliothek, 348.
Das Bistum Chur und die rätische Schriftkultur im Frühmittelalter
Von der Spätantike bis ins frühe Mittelalter gehört das Bistum Chur zur Diözese Mailand, während es gleichzeitig Teil des fränkischen Reiches ist. Die Stellung des Bistums zwischen Italien und dem Frankenreich zeigt sich auch in der rätischen Schrift. Eindeutig italienisch beeinflusste Merkmale stehen neben fränkischen Gewohnheiten.
Links: Wolfenbüttel, H. A. Bibl., Guelf. 513 Helmst, fol. 6r (Oberitalien), rechts: St. Gallen, Stiftsbibliothek, 350, p. 89 (Churrätien). Die beiden Handschriften zeigen Ähnlichkeiten, die vor allem an den Initialen deutlich werden.
Dass in der rätischen ebenso wie in der alemannischen Minuskel das das unziale a gebraucht wird, dürfte auf fränkische Einflüsse zurückgehen (links Z. 1 haec, rechts Z. 1 edificationem). Weitere Gemeinsamkeiten sind das 3-förmige g (links Z. 7 ego, rechts Z. 3 peregrinus), die r-Ligaturen (links Z. 2 recedite und Z. 5 posuerit, rechts Z. 2 viri und Z. 3 religio) sowie die liegende nt-Ligatur, die auch in der rätischen Minuskel vereinzelt in Wortmitte auftritt (rechts Z. 2 adventus).
Wo wird die rätische Minuskel geschrieben?
Im Frühmittelalter sind die wichtigsten Schreibzentren die Scriptorien der Klöster. Die wichtigsten Abteien des Bistums Chur befanden sich in Pfäfers, Disentis und Müstair, viele Handschriften in rätischer Minuskel dürften in diesen Klöstern entstanden sein. Auch in Chur selbst muss es eine Schreibschule gegeben haben, die im Frühmittelalter an der bi-schöflichen Domschule angesiedelt gewesen sein dürfte und mehrere Sakramentare produzierte.
St. Gallen, Stiftsarchiv, Fab. 1, p. 15 (Liber Viventium Fabariensis). In den Kanonbögen stehen die Namen von Klerikern und Adligen, die mit dem Kloster Pfärers in Verbindung standen. Im linken Bogen finden sich von Z. 5 bis 8 die Churer Bischöfe Victor, Tello, Constantius und Remedius.
Seit dem XII. Jahrhundert ist in Chur ein Luciuskloster belegt. Das Siegel des Klosters St. Luzi aus dem XVI. Jahrhundert zeigt den aufrechtstehenden Lucius mit Krone, Reichsapfel in der rechten und einem Pilgerstab (?) in der linken Hand. Ein Heiligenschein umgibt sein Haupt. Die Vita des heiligen Lucius berichtet, er sei König der Briten gewesen und im II. Jahrhundert nach Christus nach Chur gekommen, um dort das Christentum zu verbreiten. Diese Legende ist zwar längst widerlegt, woher Lucius stammte und wann er lebte, wissen wir aber bis heute nicht genau. Die Umschrift auf dem Siegel lautet: Sigillum Conventus Sancti Lucii.
Wann wird die rätische Minuskel geschrieben?
Heute sind uns ca. 41 Handschriften in rätischer Minuskel bekannt, zu den frühesten Bei-spielen zählt die Lebensbeschreibung des heiligen Lucius, des Churer Schutzpatrons, wel-che um 800 geschrieben wurde. Ein weiteres Referenzobjekt ist das unter Bischof Reme-dius entstandene Sacramentarium Gelasianum, das auf die Zeit zwischen 800 und 820 datiert. Nach dem Tod des Bischofs begannen die rätischen Scriptorien karolingische Mi-nuskel zu schreiben, eine Schriftart, die sich allmählich im ganzen Reich verbreitete.
St. Gallen, Stiftsbibliothek, 348, p. 368. Diese Abschrift des Sacramentarium Gelasianum wurde für Bischof Remedius von Chur angefertigt. Die rätische Minuskel ist mustergültig ausgeführt: Rätisches t und g in Z. 9 terra gloria tua, r-Ligaturen finden sich z.B. in Z. 9 gloria, Z. 13 rogamus, Z. 17-18 pacificare. Die T-Initiale (Z. 11 Te igitur […]) ist mit Flechtbandmuster gefüllt, den Deckbalken bilden zwei rätische Fische. Am unteren Seitenrand ist eine Memoriaformel für Remedius eingetragen: memento d[omi]ne famuli tui remedii ep[iscop]i […].