Vivarium
Ein altes Bild des Cassiodorklosters VIVARIUM in drei deutschen Handschriften
Nach Ende einer Karriere am gotischen Königshof gründete um 555 der Senator Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus († 583) auf seinen Besitzungen im Gebiet des heutigen Squillace das Kloster Vivarium. Die Gründung entwickelte sich rasch zu einem Zentrum des religiösen und kulturellen Lebens. Kern des Klosters war die Bibliothek, die Cassiodor mit zahlreichen Handschriften ausgestattet hatte und in der er eine rege Abschreibe- und Übersetzungstätigkeit förderte. Cassiodor stand seinem Kloster nicht selbst als Abt vor, gab jedoch den Mönchen in seiner Lehrschrift Institutiones divinarum et saecularium litterarum Anregungen zum Studium der heiligen Schrift und zur Schulung in den artes liberales. Die Institutiones enthalten ferner ganz praktische Verweise auf Lehrbücher zu Medizin und Gartenbau und Beschreibungen des Klosters selbst. Cassiodor gilt als «der letzte Philologe des klassischen Altertums» (Ludwig Traube). Nicht zuletzt durch seine Vermittlung wurden dem werdenden Mittelalter literarische Kenntnisse und prägende Bildungsgüter übergeben. Nach seinem Tod bestand Vivarium nur noch kurze Zeit.
Alle drei Zeichnungen des Klosters Vivarium gehen auf eine Vorlage zurück, die zu Lebzeiten Cassiodors in dessen Kloster entstanden sein dürfte. Zu sehen sind jeweils die doppeltürmige Martinskirche, die Hilariuskirche (Ianuariuskirche in der ältesten, der Bamberger Hs.), das Apsismosaik der Hilarius- bzw. Ianuariuskirche (eine segnende Hand Gottes, nur in der Bamberger Hs.), der Fluß Pellena, künstliche Fischteiche, Gärten, Palmen, Tauben (mit Ausnahme der Bamberger Hs.) und das Meer. Cassiodor beschreibt in den Institutiones ausführlich Lage und Anlage seiner Klostergründung, der er nach dem lateinischen Wort für Fischteich den Namen Vivarium gab.
Erstes Bild
Bamberg, Staatsbibliothek, Patr. 61 (HJ. IV. 15), fol. 29v, frühe Beneventana, saec. VIII ex.
Invitat siquidem vos locus Vivariensis monasterii ad multa peregrinis et egentibus praeparanda, quando habetis hortos irriguos et piscosi amnis Pellenae fluenta vicina, qui nec magnitudine undarum suspectus habetur nec exiguitate temnibilis. Influit vobis arte moderatus, ubicumque necessarius iudicatur, et hortis vestris sufficiens et molinis. Adest enim cum desideratur et cum vota compleverit remotus abscedit; sic quodam ministerio devotus existens nec horret importunus nec potest deesse cum quaeritur.
Cassiodor, Institutiones I 29,1 (1-11)
«Die Lage des Klosters Vivarium lädt euch ein, vieles für Reisende und Arme vorzubereiten, zumal ihr bewässerte Gärten und in der Nachbarschaft den Lauf des fischreichen Flusses Pellena habt, der weder wegen der Stärke der Strömung furchteinflößend, noch wegen ihrer Kraftlosigkeit zu vernachlässigen ist. Von Menschenhand gebändigt fließt er, wo immer es nötig ist, bei euch ein und führt genug Wasser für eure Gärten und Mühlen. So ist er da, wenn man ihn braucht, und fließt ab, sobald er seine Aufgaben erfüllt hat. Treu erfüllt er sein Amt, schreckt nicht durch sein Ungestüm und fehlt nicht, wenn er benötigt wird.»
Zweites Bild
Würzburg, Universitätsbibliothek, M. p. th. f. 29, fol. 32r, Karolingische Minuskel, Mainz saec. IX1 (Bischoff, Libri Sancti Kyliani)
Drittes Bild
Kassel, Gesamthochschul-Bibliothek, Theol. 2o 29, fol. 26v, saec. IX 3/3 (teste Bischoff)
Maria quoque vobis ita subiacent, ut piscationibus variis pateant et captus piscis, cum libuerit, vivariis possit includi. Fecimus enim illic iuvante domino grata receptacula, ubi sub claustro fideli vagetur piscium multitudo, ita consentaneum montium speluncis, ut nullatenus se sentiat captum, cui libertas est et escas sumere et per solitas se cavernas abscondere.
Cassiodor Institutiones I 29, 1 (11-17)
«Auch das Meer ist euch insoweit zu Diensten, daß es für allerlei Fischfang offensteht, und der gefangene Fisch kann, so man will, in Fischteichen ausgesetzt werden. Denn wir haben dort mit Hilfe des Herrn schöne Weiher angelegt, in denen die Menge der Fische, sicher verwahrt, umherschwimmen kann. Sie entsprechen den Höhlen der Berge, so daß sich der Fisch, dem es freisteht, Futter zu nehmen oder in den gewohnten Schlupfwinkeln verborgen zu bleiben, nicht gefangengehalten fühlt.»
Viertes Bild
Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Amiat. 1, fol. 5v, ante a. D. 716
Codex Amiatinus. Die Miniatur zeigt Cassiodor in Gestalt des alttestamentlichen Autors Esdras (Esra, Ezras) mit den drei von ihm in den Institutiones geschilderten Bibelexemplaren. Im Bücherschrank (armarium) steht die neunbändige Bibel.
Das Skriptorium von Vivarium spielte eine wichtige Rolle bei der Verbreitung lateinischer Bibelhandschriften. Cassiodor spricht in den Institutiones von drei verschiedenen Mustern, nach denen in seinem Skriptorium Bibelabschriften angefertigt werden sollen. Zwei davon waren solche in einem Band (Pandekten), wobei Cassiodor zwischen einem repräsentativen, großen Exemplar und einem kleineren Gebrauchsexemplar unterschied. Nach einem dritten Muster fertigte man das sogenannte Normalexemplar, das den Text in neun Bänden bot. Der «Codex Amiatinus» wurde nach Vorbild des großen Pandekten aus Vivarium im frühen achten Jahrhundert kopiert. Alle drei Musterbibeln sind auf der Miniatur des Schreibers Esdras abgebildet: der große Pandekt befindet sich in seinen Händen, der kleinere zu dessen Füßen, die neunbändige Bibel im Bücherschrank, wobei sich sogar die Beschriftung der Buchrücken mit Cassiodors Einteilung in den Institutiones deckt. Im Gewand des Schreibers Esdras tritt uns folglich kein anderer als Cassiodor selbst entgegen.