Deutschland in Amerikas Geist (FAZ 05-08-2005)
Verfassungswettstreit
Deutschland in Amerikas Geist
Welche Verfassung ist die erfolgreichere? Das mehr
als zwei Jahrhunderte alte Modell der Vereinigten Staaten oder die deutsche
Version, das Grundgesetz von 1949? Nach Überzeugung von Manfred
Berg, Professor für amerikanische Geschichte an der Universität
Heidelberg, verdient die amerikanische Verfassung den Titel des "erfolgreichsten
Verfassungsdokuments", da sich die sieben Artikel und 27 Zusatzartikel
als "bemerkenswert anpassungsfähig" erwiesen hätten.
Doch aus dem Publikum am Deutschen Historischen Institut in Washington,
wo Berg gemeinsam mit dem Historiker Dieter Gosewinkel vom Wissenschaftszentrum
Berlin über Verfassungsrecht und Rechtskultur in Deutschland und
in den Vereinigten Staaten referierte, kam energischer Widerspruch:
Das deutsche Konzept sei das erfolgreichere, denn mit Neuerungen wie
der verfassungsrechtlichen Verankerung des Umweltschutzes habe das deutsche
System besser als das amerikanische auf Veränderungen reagiert.
Ob und wann aber Wandel Fortschritt bedeutet, darüber gibt es diesseits
und jenseits des Atlantiks unterschiedliche Ansichten. Nirgends, so
Berg, finde das Konzept ursprungshermeneutischer Verfassungsinterpretation
größere Akzeptanz als in den Vereinigten Staaten. Der "Mythos",
daß die Verfassungsväter gesellschaftliche Umbrüche
vorhergesehen und bei der Formulierung der Verfassung berücksichtigt
hätten, bestehe weiter fort. Die daraus abgeleitete Überzeugung
vom verfassungsrechtlichen Sonderweg Amerikas sei weit verbreitet; nicht
nur der konservative Supreme-Court-Richter Antonin Scalia fechte energisch
dagegen, die amerikanische Verfassung im Lichte ausländischer Rechtsordnungen
und Gerichtsurteile zu interpretieren. In die Kategorie "amerikanischer
Exzeptionalismus" fällt nach Darstellung von Berg gleichfalls
die Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft durch Urteile des
Supreme Court zu gesellschaftspolitisch brisanten Themen wie Schwangerschaftsabbruch
und Schulgebet. Gosewinkel stimmte zu: Auch wenn das Bundesverfassungsgericht
etwa mit dem "Soldaten sind Mörder"-Urteil und dem "Kruzifix-Urteil"
empfindlich an Tabus und Traditionen kultureller Mehrheitsströmungen
gerührt habe, seien in Deutschland keine Kulturkriege nach amerikanischem
Muster entbrannt. Anders als der Supreme Court bilde das Bundesverfassungsgericht
eben "nicht die Konfliktlinien politischer Lager ab", legte
Gosewinkel dar. Vielmehr vermittle das Gericht vor allem wegen des Proporzsystems
in der Besetzungspolitik den Eindruck von "Binnenpluralität
und Neutralität, der insgesamt seine hohe Legitimität als
streitschlichtende Instanz, als Hüter der Verfassung, festigt und
bewahrt". Betrachte man dagegen die "Politisierung des Supreme
Court", spreche "vieles dafür, daß die amerikanische
Doktrin vom Primat der Verfassung in Deutschland den gesellschaftlichen
Frieden nachhaltiger stabilisiert als in den Vereinigten Staaten".