Überblick über die Neuere deutsche Literaturwissenschaft
Literarische Bildung
Die Philologie hat ihr historisches Fundament in der Aufgabe, poetische Texte durch kritische Edition vor dem Verfall und dem Vergessen zu bewahren. Im Zuge dieses elementaren Geschäfts hat sich ihr Tätigkeitsfeld entscheidend erweitert. Indem die Literaturwissenschaft die Bedeutung kultureller Leistungen der Vergangenheit erschließt, gibt sie immer auch Aufschluss über die Vielfalt möglicher Denkweisen, Wahrnehmungsarten und Schreibformen. Nirgends sonst werden geschichtliche Erfahrungen in hohem Maß gleichzeitig vergesellschaftet und radikal individualisiert, versprachlicht und in ästhetische Form gebracht wie in der Literatur. Die Beschäftigung mit ihr wirft stets auch ein Licht auf die Verhältnisse der Gegenwart, die individuellen Sichtweisen und die eigene Lebenspraxis. So gilt die Erfahrung von Literatur im Akt des Lesens noch als die einzige Möglichkeit, ein autonomes Selbst zu erlangen und zu bewahren. Erst im Versuch, andere Lebensweisen zu verstehen, wird man ein Individuum im vollen Sinne, erst hierdurch löst man sich von seinen kulturellen Prägungen und von der eigenen Vergangenheit, insofern der Leser literarischer Texte mit anderen Lebensentwürfen konfrontiert, zur Einfühlung "erzogen" und dadurch von überlieferten Vorurteilen gelöst wird. Doch verlangt das Lesen auch eine gewisse Askese: Stillsitzen, Einsamkeit, Ausdauer, Konzentration auf ein enges Blickfeld, nur um reizlose, kleine, schwarze Zeichen in eine zunächst noch undeutliche Vorstellung im Hirn zu verwandeln.
Textanalyse und -produktion
Neben das sinnliche Vermögen, den Genuss und die intensive Anteilnahme an Literatur tritt im Studium die methodisch disziplinierte professionalisierte Lektüre als Bedingung der Rekonstruktion, Einordnung, Interpretation und Bewertung literarischer Texte. Indem die Terminologie, die Techniken und Beschreibungsverfahren verfügbar gemacht werden, die notwendig sind, literarische Klassiker ebenso wie die jüngsten Erzeugnisse der Gegenwartsliteratur sich produktiv anzueignen und kritisch zu würdigen, dient das Studium der Literaturwissenschaft nicht nur dem Erwerb historischer Kenntnis, sondern auch dem differenzierten Umgang mit fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten in Theorie und Praxis. Die Analyse literarischer Texte vermittelt die handwerklichen Prinzipien ihrer Konstruktion, eröffnet die Bandbreite der vielfältigen Arten des Schreibens, Überredens, Wahrnehmens und entwickelt das eigene Schreibvermögen. Schreiben lernt der Absolvent der Literaturwissenschaft vom ersten Semester an, im Verlauf des Studiums muss ein breites Spektrum an Textsorten verfasst werden, vom Exzerpt und Thesenpapier bis zur wissenschaftlichen Hausarbeit, von der Literaturkritik bis zur Abschlussarbeit. Nicht nur der individuelle Ausdruck und die Stilsicherheit, auch die mündliche Kommunikations- und Diskussionsfähigkeit wird von Beginn an in der Präsentation von Referaten oder in der Seminardiskussion systematisch geschult.
Kontexte
Die literaturwissenschaftliche Ausbildung bleibt nicht bei der Analyse literarischer Techniken stehen, sondern berücksichtigt die intertextuellen Bezüge, die historisch-sozialen Kontexte, die Tradition der Rhetorik und Poetik ebenso wie die übergreifenden Gattungskonventionen und Diskursordnungen, zu denen literarische Texte sich verhalten. Die literaturgeschichtlichen Schwerpunkte liegen in Heidelberg auf der Literatur der Frühen Neuzeit (vom Renaissancehumanismus bis zur Frühaufklärung), auf dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert (kein Semester ohne Goethe und die Romantiker), auf der literarischen Moderne (Jahrhundertwende bis zur Neuen Sachlichkeit) und der Gegenwartsliteratur (Postmoderne). Zu den stilgeschichtlichen Periodisierungssystemen von Literatur tritt das pluralistische Spektrum der Literaturtheorien und -methoden von der philologischen Hermeneutik, über sozialgeschichtliche Zugänge bis zur Diskursanalyse. Interdisziplinär angelegte Ringvorlesungen und Lehrveranstaltungen über die Wechselbeziehungen von Literatur und Musik oder von Dichtung und bildenden Künsten bis hin zu medienästhetischen Analysen (Theater und Film) machen Wissensbestände aus den Nachbarkünsten zugänglich und zielen auf eine kulturwissenschaftliche Ausweitung des Studiums, ohne dabei den eigentlichen Gegenstand aus den Augen zu verlieren.
Das Handwerk der Philologie
Ein Kupferstich aus dem Jahre 1697 veranschaulicht das Handwerk der Philologie. Auf ihm präsentiert sich eine an einem Tisch sitzende weibliche Leserin mit fast demonstrativ in die Höhe gehaltenem Buch. Während sie aufmerksam in das Bändchen blickt, zeichnet die rechte Hand Buchstaben auf ein leeres Stück Pergament. Der hinzutretende Gott Hermes unterstützt diese doppelte Tätigkeit des Lesens und Schreibens, indem er eine Öllampe hält, welche das Buch beleuchten und seine Leserin erleuchten soll. Hinterfangen wird das bedeutungsvolle Arrangement von einer ausladenden, reich bestückten Bibliothek, welche die Ehrwürdigkeit und Geschlossenheit der literarischen Tradition signalisiert. Schließlich kann nicht jedes beliebige Buch Gegenstand der hier praktizierten exklusiven Dechiffrierkunst werden. Auf die Rätselhaftigkeit und Deutungsbedürftigkeit der kanonischen Werke spielt die links im Vordergrund des Tableaus lagernde Sphinx an. Dass sich die schreibende Leserin codifizierten Texten zuwendet, um sie vor dem drohenden Vergessen zu bewahren und ihnen vielleicht sogar die Würde der Unsterblichkeit zu verleihen, davon kündet der obligatorische Totenschädel und die lorbeerumwickelte Fama-Trompete. In nuce beschreibt die barocke Allegorie der "Ars critica" das traditionelle Handwerk des Philologen, der literarische Texte archiviert, pflegt, auslegt und das in ihnen verdichtete kulturelle Wissen an spätere Leser weitergibt.