SUMO: Der ewige Ringkampf
Frauke Melchior entdeckte SUMO, ein kleines Protein mit großer Wirkung. Dahinter steckten ein Quäntchen Glück, der Blick für das Unerwartete und viel solides Handwerk.
Ein dicker, halbnackter Japaner aus Plastik erinnert Frauke Melchior daran, dass es ein langer, aber kurzweiliger Weg war bis zum Namen für ihr Lieblingsprotein. Fünfzehn Jahre ist das her, eine Woche suchte sie damals mit Kollegen eine Abkürzung für das neue Molekül, das sie entdeckt hatte – nicht einer dieser Zungenbrecher aus Zahlen und Konsonanten sollte es sein, USP25 oder DPP9, sondern griffig und leicht auszusprechen. Melchior favorisierte SURF. Schließlich blickte man vom Labor im kalifornischen La Jolla aus direkt aufs Meer. Und der Name „small ubiquitin related factor“ macht deutlich, dass hier ein winziges Eiweiß ähnlich agierte wie Ubiquitin – ein Protein, das als Müllabfuhr der Zellen bekannt ist. Es hängt sich an andere Proteine an und markiert sie so als Abfall. Wäre der Name nicht bereits vergeben gewesen, vielleicht stünde heute ein Surfbrett auf Melchiors Fensterbrett. So aber setzte sich SUMO durch, für einen „small ubiquitin related modifier“. Das ging leicht über die Lippen und beflügelte obendrein die Phantasie einiger Herausgeber. „SUMO ringt mit anderen Proteinen“, schrieben sie bald in ihren Journalen, so konnte man sich vorstellen, was dieses neue Protein tat. „Das wirkte wie Marketing für unsere Forschung“, sagt Melchior heute. Plötzlich arbeiteten Forschergruppen weltweit an ihrem Thema. Begonnen hatte alles einige Tage zuvor, mit einem Experiment, das Melchior nie vergessen wird.
Eigentlich wollte sie RanGAP untersuchen, ein Enzym, das wie ein Türsteher darüber wacht, ob und wann bestimmte Substanzen vom Zytoplasma in den Zellkern gelangen oder nicht. Ihr fiel auf, dass es in zwei Formen auftrat, von denen eine länger war als erwartet. Nur diese längere Variante hielt sich stabil an den Poren zwischen Zellkern und Plasma. Woraus aber bestand der Überhang? Mit einem Kollegen prüfte sie eine Datenbank. Die zusätzlichen Aminosäuren hätten eine entfernte Ähnlichkeit mit Ubiquitin, befand der Computer, allerdings waren 18 Prozent Übereinstimmung ein schwaches Signal. Doch sie reichten, um Melchior neugierig zu machen. Sie wusste gut Bescheid über Ubiquitin und wie es andere Proteine modifiziert. Sollte sie einen neuen Stoff entdeckt haben, der zu Ähnlichem in der Lage ist – etwa RanGAP so zu verändern, dass es am Kernporenkomplex andocken kann? Aus dieser vagen Vorstellung heraus begann Melchior ein zweites Experiment. Ubiquitin, das wusste sie, kommt in jeder Zelle vor, die einen Zellkern hat, und es braucht Energie, um an andere Proteine anzudocken.
Also mischte sie die kurze Variante von RanGAP mit einem beliebigen Zellextrakt und dem Energielieferanten Adenosintriphosphat. Würde sich die kurze Variante mit dem neuen Protein zusammentun und so erklären, wieso es auch eine lange Variante von RanGAP zu geben schien? In den folgenden Stunden trennte Melchior die Eiweiße der Zellextrakte nach ihrer Größe auf, übertrug sie auf eine Membran und fügte Antikörper hinzu, die beide Varianten sichtbar machen müssten. Sie färbte die Membran ein, wusch sie – routiniert, den ganzen Nachmittag. Zwischendurch rannte sie über den Gang und erzählte Kollegen von ihrer Idee. „Ich habe mein Herz schon immer auf der Zunge getragen“, sagt sie. „Wir träumten schon davon, was wir in den nächsten zehn Jahren alles mit einer solchen Entdeckung machen würden.“
Irgendwann spätabends spuckte eine Entwicklermaschine endlich den Röntgenfilm aus, und die Antwort auf ihre Frage wurde sichtbar. Tatsächlich: Die kurze Form hatte sich in die lange verwandelt, weil RanGAP eine Verbindung mit dem neuen Protein eingegangen war, das später SUMO getauft wurde. Das RanGAP-Protein war „sumoyliert“. Und nur weil es in diesem Zustand stabil blieb, konnte Melchior es in aller Ruhe untersuchen. Erst später begriff sie dieses seltene Glück. „Die meisten Proteine geben SUMO nämlich sofort wieder ab“, erklärt sie. Deshalb hatten andere Forscher in Experimenten bereits SUMO-Signale gesehen, aber nicht verstanden. Melchior erkannte „ihr“ Protein also, weil ihr ein glücklicher Umstand zu Hilfe kam. Sie erkannte es aber auch, weil sie ihre Werkzeuge geschärft hatte. Die Antikörper, die in den Experimenten spezifische Proteine erkennen sollen, stellt sie meist selbst her. „Nur dann kann ich sicher sein, dass sie wirklich nur das eine Protein markieren, das ich suche.“ Und sie erkannte SUMO, weil sie wusste, wie Ubiquitin funktioniert. „Deshalb quäle ich heute meine Doktoranden in Seminare, auch wenn sie lieber ihre Experimente im Labor vorantreiben würden. Sonst entdecken sie womöglich einmal die tollsten Phänomene und merken es nicht.“
Innerhalb weniger Tage steuerte Melchior damals ihre Forschungsarbeit in eine neue Richtung. Sie war sicher, dass SUMO für Prozesse „in allen Ecken der Zelle“ entscheidend sei, dass sich aus dieser Entdeckung ein ganzes Forschungsfeld ergeben würde. Das wollte sie nutzen, um sich als Wissenschaftlerin unabhängig zu machen von ihrem Mentor Larry Gerrace. Der ließ ihr freie Hand. „Er hat mir das Thema von Anfang an überlassen, das hat mir sehr imponiert.“
Melchior liebt die Atmosphäre im Labor. Mehrmals am Tag ist sie dort, prüft Ergebnisse, diskutiert Ideen. Und auch sie lässt ihren Mitarbeitern freie Hand. So wollte Guillaume Bossis, ein Postdoktorand aus Frankreich, eigentlich weitere Proteine identifizieren, die mit einer bestimmten Variante von SUMO verknüpft sind. Bei seinen Experimenten stieß er zufällig auf einen Mechanismus, wie die Zellen kleinste Mengen Wasserstoffperoxid nutzen, um die Sumoylierung zu blockieren. Weil Wasserstoffperoxid in größeren Mengen eine entscheidende Rolle bei oxidativem Stress spielt, der unter anderem mit Alterung und Krebs in Verbindung gebracht wird, lenkte Bossis sein Projekt sofort in eine neue Bahn. „Das durfte er natürlich, ich hatte es ja genauso gemacht“, sagt Melchior.
SUMO interagiert mit Hunderten von Proteinen, und oft erfährt Melchior im Gespräch, dass andere Heidelberger Forschungsteams bereits an denselben Proteinen arbeiten. Dafür sind die Komitees aus Professoren ideal, die in der Graduiertenschule HBIGS Doktorarbeiten betreuen. „Bei den jährlichen Treffen erfahre ich im Detail, woran meine Kollegen eigentlich arbeiten“, sagt sie. „Daraus entstehen gemeinsame Ideen.“ Einen festen Rahmen für Austausch, das vor allem hat die Exzellenzinitiative für Melchior gebracht. „Stecke Wissenschaftler zusammen in einen Raum und sie werden Ideen ausbrüten – wie im Inkubator.“
So lernte sie auf einer Klausurtagung der Allianz zwischen dem Zentrum für Molekulare Biologie (ZMBH) und dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) Stefan Herzig kennen. Er analysiert, wie der Stoffwechsel reguliert wird und wie Defekte dieser Regulation zu Diabetes und Krebs führen können. Da wichtige Kontrollproteine, die er untersucht, mit SUMO verknüpft werden können, wollen Melchior und Herzig nun gemeinsam herausfinden, ob ihre Sumoylierung für Stoffwechselfunktionen wichtig ist.
Stress und Impulse von außen, das gilt als gesichert, können das Muster der Sumoylierung insgesamt verändern – Hitzeschocks und Trockenheit bei Pflanzen ähnlich wie der Winterschlaf bei Eichhörnchen oder Schlaganfälle in Tier-Modellen. Die Bedeutung solcher globaler Änderungen wollen Melchior und viele andere Forscher langfristig klären. Manche Proteine verändern bei Verbindung mit SUMO ihre Form oder können neue Bindungen eingehen. Bei anderen blockiert das kleine Eiweiß die Bindungsstellen. All diese Modifikationen dürften auch bei vielen Krankheiten eine entscheidende Rolle spielen. So fand Melchior zusammen mit dem Göttinger Wissenschaftler Jochen Weisshaupt heraus, dass Eiweiße, die bei der Nervenkrankheit Parkinson regelrecht verklumpen, in Lösung bleiben, wenn nur ein kleiner Teil von ihnen sumoyliert wird. An Spekulationen, was das bedeuten kann, will sich Frauke Melchior nicht beteiligen. Sie plant lieber noch ein weiteres Experiment.
Kurzbiografie
Prof. Dr. Frauke Melchior
Frauke Melchior studierte Chemie in Marburg und Bristol und wurde anschließend im Fachbereich Chemie der Universität Marburg promoviert. Dann arbeitete sie zwei Jahre in Göttingen, bevor sie am Forschungszentrum Scripps in La Jolla das SUMO-Protein entdeckte. Ihre Fragen zur Wirkungsweise und Regulation von SUMO verfolgte sie als Nachwuchsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried bei München. Von 2004 an war sie Professorin für Biochemie in Göttingen, wechselte aber 2008 erneut, diesmal auf einen Lehrstuhl für Molekularbiologie am Heidelberger ZMBH. Sie arbeitet im Bewilligungsausschuss für Graduiertenkollegs der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit und wurde 1999 mit dem Young Investigator Award „BioFuture“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ausgezeichnet. 2005 erhielt sie den Binder-Preis der deutschen Gesellschaft für Zellbiologie und 2007 wurde sie zum Mitglied der renommierten europäischen molekularbiologischen Organisation EMBO gewählt.