Mehr Gewicht für die fremde Sicht
Die transkulturellen Studien untersuchen die Begegnung von Kulturen aus dem Blickwinkel beider Seiten - dazu überschreiten Claudia Brosseder und Georg Christ immer wieder Fächergrenzen.
Nach seiner Doktorarbeit wollte Georg Christ vor allem eins: Abstand gewinnen vom theoretischen Diskurs. Also bewarb er sich als Militärbeobachter im Nahen Osten. Er wollte Patrouillen fahren auf den Golanhöhen, erleben, was passiert, wenn verschiedene Kulturen sich begegnen. Doch als die Vorgesetzten der UNO erfuhren, dass er einen Doktortitel führt und Arabisch spricht, da fanden sie schnell einen neuen Auftrag für ihn - im Büro in Jerusalem. „Da analysierte ich wieder Texte.“
Auch Claudia Brosseder hat es immer wieder in die Welt gezogen. Der Freistaat Bayern unterstützte ihr Habilitations-projekt zur andinen Kultur mit einem Förderpreis. So konnte sie um die Welt reisen und forschte in staatlichen, kirchlichen und privaten Archiven und Museen in fünf südamerikanischen Ländern. Auch in den Lateinamerika-Archiven in Spanien, Italien und den USA wurde sie fündig. „Nur so kann ich der andinen Kultur vor der Kolonialzeit auf die Spur kommen“, sagt sie. „Denn die lässt sich nicht allein aus schriftlichen Quellen begreifen. Auch Bilder und Bauwerke, archäologische Stätten und andine Kultorte liefern wichtige Hinweise.“
Als Mikrohistoriker schaue er die Welt im Dorf an, sagt Georg Christ, und gehe dabei großen Fragen im Kleinen nach. Allerdings will er nicht ein neues Kulturverständnis entwickeln, etwa einen begrifflichen Nachfolger der sperrig-abgegriffenen Interkulturalität. Ihm geht es eher darum, durch einen transdisziplinären Ansatz den Blick auf die Kulturen zu schärfen. Christ experimentiert mit neuen Organisationsformen und Techniken, mit fächerübergreifender Kooperation, digitalen Zettelkästen und Geoinformationssystemen.
„Wir wollen systematisch erforschen, wie sich Kulturen begegnen, und sie sollen in ihrem Eigengewicht zur Sprache kommen“, sagt Claudia Brosseder. Sie hat sich auf die Vielfalt andiner Kultur eingelassen und will die indigene Welt der Andenbewohner besser verstehen - und das nicht allein aus den Schriften der Kolonialisten. Zum Beispiel hat sie Forscher aus Lateinameri ka, den USA und Europa nach Heidelberg eingeladen. „Manche peruanische Gelehrte besitzen Wissen um Detailfragen und Zusammenhänge, das lange vernachlässigt wurde“, sagt sie. Mit ihnen arbeitet sie daran, dass die Geschichte der andinen Welt vom 16. bis zum 18. Jahrhundert nicht allein aus der Perspektive christlicher Mission erzählt wird. Sie soll ein Gegengewicht erhalten und mit Befunden der Archäologie und Ethnologie abgeglichen werden.
Die Historikerin trägt minutiöse Information zu Detailfragen zusammen - und nimmt dann wieder das große Ganze in den Blick. „Das verlange ich auch von meinen Doktoranden“, sagt sie. „Sie sollten versuchen, mit ihren Detailstudien auch große Fragen zu beantworten.“ Was trägt Religion zur ethnischen und kulturellen Identität bei? Welche Rolle spielen Riten, die christliche Missionare als Magie und Aberglaube bezeichneten? Was ist überhaupt andine Religion? Auf diese Fragen sucht Brosseder Antworten, und nie in Texten allein. Sie bezieht Hinweise von Ethnologen ein und untersucht archäologische Artefakte. Auch Bilder will sie als eigene Quellen begreifen, in ihnen lesen.
Ihre Nachwuchsgruppe hat Claudia Brosseder so zusammengestellt, dass jeder Mitarbeiter eine eigene Perspektive mitbringt. Bisher arbeiten dort ein Ethnologe, ein Historiker und ein Archäologe zusammen - einen Linguisten und einen Kunsthistoriker sucht sie noch.
Auch Georg Christ, der Mittelalter-Experte, hat keine anderen Mediävisten, sondern einen Wirtschaftshistoriker, eine Anthropologin und eine Islamwissenschaftlerin angeheuert. Beide, Brosseder und Christ, wollen diachron arbeiten, über Epochenund Fachgrenzen hinweg. Bei ihm kann das heißen, dass er Bankenkrisen über einen Zeitraum von 1000 Jahren betrachtet. „So kann ich Fragen nachgehen, die heute stark politisiert wären“, sagt er. Integration in modernen Gesellschaften lasse sich besser verstehen, wo sie nicht durch ideologisch aufgeladene Kulturdefinitionen gefährdet sei - zum Beispiel in der scheinbar fernen Vergangenheit.
Für seine Doktorarbeit untersuchte Christ die Diaspora venezianischer Kaufleute in Alexandria. „Wenn der Islam in der Vergangenheit auf das Christentum traf, dann war das nicht einfach ein Kampf zweier Kulturen“, sagt er. „Vielmehr gab es Grautöne - viele Kämpfe zwischen vielen Kulturen. Die venezianischen Kaufleute waren Pioniere und bereiteten den Weg für Annäherung. Doch wenn ein Geschäft schief gelaufen war, dienten kulturelle Gegensätze als willkommene Ausrede für Misserfolge, und so gelangte es dann in die meistgelesenen Quellen.“ Der Versuch, Kulturen entlang von Konfliktlinien voneinander abzugrenzen, das stellt Christ immer wieder fest, verschleiert mehr als er erklärt. Zu oft verliefen diese quer zu den Grenzen einer Kultur, und Konflikt sorge für konstruktiven Austausch. Um das zu erkennen, hat er sich mit Briefen, Steuererklärungen und Konten venezianischer Kaufleute auseinandergesetzt - „mikroskopisch arbeiten“ nennt er das.
Vielleicht ist das der Kern des Begriffs vom „Transkulturellen“ - die Frage, wie sich Kulturen verändern im Kontakt mit dem Fremden. Was bleibt, nachdem sie sich ausgetauscht haben? „Es gibt zwar eigentlich keine klar abgrenzbaren einheitlichen Kulturen“, sagt Christ. „Kulturen borgen voneinander, kopieren und verändern sich. Trotzdem sind die Konzepte, die Konstruktionen von 'eigener' und 'anderer' Kultur so präsent und wirkmächtig, dass sie sogar Konflikte auslösen.“
Heute will Christ vergleichen, wie sich Hansestädte an der Ostsee und Zentren des Mittelmeerraums an Klimaveränderungen anpassten und wie sie auf Massensterben - etwa zu Pestzeiten - oder auf Zuwanderung neuer Einwohner reagierten. „Eine grundlegende Veränderung kann Katastrophe und Chance zugleich sein. Sie kann Orte zur Geisterstadt machen oder zum boomenden Hafen. Aber was entscheidet darüber?“
Wie Menschen unterschiedlicher Kulturkreise auf Veränderungen reagierten, die die Wirtschaft im Mittelmeer- und Ostseeraum prägten, das kann Christ nicht einfach nachlesen. Er muss es rekonstruieren, oft gemeinsam mit Spezialisten aus anderen Fächern. Um etwa mehr über bestimmte Schmuggelpraktiken zu erfahren, zu denen direkte historische Quellen fehlen, greift er auf eine Datenbank zurück, die seine Forschungsgruppe mit Informatikern und weiteren Historikern angelegt hatte.
Die dort zusammengetragenen Archiv- und Literaturquellen in Verbindung mit tausenden von Personen-, Schiffs-, Ereignis- und Ortsdaten ermöglichen es, die Wege von Schiffen, Kaufleuten und sogar einzelnen Waren zu verfolgen. Die Analyse in einem einfachen Geoinformationssystem kann dann zeigen, wie Gewürze oder Seidenstoffe verschwanden, illegal weiterwanderten und schließlich wieder auf den Markt kamen. „So können wir bei schlechter Quellenlage besser hinter die Kulissen blicken“, sagt Christ. Mit dem von ihm koordinierten Kolleg für Methoden und Anwendungen (MAK) pflegt er den hierzu notwendigen Dialog zwischen den Disziplinen - mit Informatikern und Geographen, aber auch Archäologen und Kunsthistorikern.
Claudia Brosseder beobachtet, wie sich Kulturen durch die Begegnung anpassen, aber auch, wie sie einander widerstehen. „Obwohl der Druck zur Anpassung enorm war, sind die meisten Andenbewohner auch heute stolz auf das Erbe der Inka und der präinkaischen Kulturen.“ In welchen Regionen war die Anpassung stärker, bei wem und wo wurde mehr Ursprüngliches bewahrt? Mit solchen Fragen geht Brosseder ins Quellenstudium. Am Ende ihres Forschungsprozesses steht nicht direkt eine Karte - ihre Erkenntnisse stellt sie weiter am liebsten textlich dar. Trotzdem bringt sie Geographie und Geschichte einander näher. „Wir sollten uns wieder mehr als Schwesterdisziplinen verstehen“, sagt sie. In einem neuen Projekt mit dem Heidelberger Geographen Bertil Mächtle gleicht sie historische Quellen aus Peru mit seinen Archiven der Umweltgeschichte ab - mit Bohrkernen und Torfproben aus der Region um den Titicacasee. Sie will wissen, wie sich Klimagunst in religiösen Vorstellungen niederschlug.
Als Nachwuchsgruppenleiter haben Claudia Brosseder und Georg Christ viel Freiheit bei der Wahl ihrer Forschungsansätze und ihrer Fragen. „Unsere Stellen bieten Freiräume, verlangen Selbständigkeit und nehmen uns in die Verantwortung“, sagt Christ. Weil sie die Perspektive junger Wissenschaftler in Heidelberg aber auch langfristig verbessern will, engagiert sich Brosseder im Universitätsrat. „Derzeit muss sich die Universität freuen, wenn wir von Heidelberg weg auf andere Lehrstühle berufen werden. Das Ziel müsste sein, die Besten von uns zu halten.“ Die Exzellenzinitiative hat Georg Christ und Claudia Brosseder ermöglicht, in neuen Gewässern zu segeln - befestigte Kanäle hinterlassen hat sie noch nicht.
Kurzbiografien
PD Dr. Claudia Brosseder
Claudia Brosseder hat in München und an der amerikanischen Princeton-Universität Geschichte und Philosophie studiert. 2002 wurde sie an der Münchner LMU über die Geschichte der deutschen Astrologie und ihre Verflechtung mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen im 16. Jahrhundert promoviert. Danach forschte sie in Peru und Stanford, USA, und ab 2007 als Professorin an der Stetson Universität in Florida. 2009 habilitierte sie sich im Fach „Geschichte der Neuzeit“ - wieder an der LMU. 2008 übernahm die Historikerin die Leitung einer Nachwuchsgruppe in den Transkulturellen Studien mit dem Titel „Der Dialog der Kulturen in den Anden“. Derzeit publiziert sie ein Buch über die Welt andiner religiöser Spezialisten während der Kolonialzeit und ihren Austausch mit Europäern und Afroamerikanern in Peru vom 16. bis zum 18. Jahrhundert.
Dr. Georg Christ
Georg Christ hat in der Schweiz Geschichte, Volkswirtschaftslehre und Islamwissenschaft studiert. Während der Promotion an der Universität Basel über die venezianische Kaufmannsdiaspora im Alexandria des Mittelalters verbrachte er mehrere Monate in Archiven in Venedig, Kairo und Alexandria. Danach arbeitete er für vierzehn Monate als Militärbeobachter für die Vereinten Nationen im Nahen Osten. Seit 2008 ist er Nachwuchsgruppenleiter in den Transkulturellen Studien der Universität Heidelberg. Das Arbeitsthema seiner Gruppe lautet „Kaufmannsdiasporas im östlichen Mittelmeerraum (1250-1450)“ - dieser Ausrichtung war auch die internationale Konferenz „Union in Separation“ treu, die Christ mit seiner Gruppe organisierte. Zeitgleich habilitiert sich Christ.