Der Evolution in das Regiebuch schauen
Joachim Wittbrodt ist Herr über 3.500 Aquarien und rund 50.000 Fische. Als Junge fing der Biologe sie gerne, heute haben sie ihn „gefangen“ – Wittbrodt untersucht die Augen von Wirbeltieren, insbesondere die von Fischen.
„Fische sind ideal, man kann sie in großer Zahl halten und ihre Augen sind prinzipiell so aufgebaut wie die des Menschen“, sagt der Zoologe, der am Exzellenzcluster CellNetworks der Ruperto Carola forscht. Der große Unterschied: Fischaugen wachsen lebenslang und erneuern sich. Allerdings gibt es laut Wittbrodt auch im menschlichen Auge einen Zelltyp mit der Fähigkeit zur Regeneration. „Diese Reparaturarbeit testen wir gerade an Fischaugen. Möglicherweise kommen die Ergebnisse später der Augenheilkunde zugute, zum Beispiel bei Verletzungen der Netzhaut.“
„Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass junge Fische nicht süß sind?“ Joachim Wittbrodt fragt das eher beiläufig, dabei ist diese Beobachtung eine Voraussetzung seiner Arbeit als Forscher. Anders als bei Kleinkindern sind Fischaugen bei Geburt nicht unverhältnismäßig groß. Deshalb sind kleine Fische nur das: kleine Fische. Und weil auch ihre Organe lebenslang wachsen, lassen sich bei ihnen Entwicklungsprozesse beobachten, die beim Mensch mit der Geburt längst abgeschlossen sind.
Joachim Wittbrodt hat revolutioniert, wie wir Tieren bei der Entwicklung zusehen können. „Das ist Leben“, ruft er, während auf dem Flachbildschirm an seiner Bürowand der erste Tag im Leben eines Zebrafisch-Embryos abläuft. Der Film beginnt mit den ersten Zellen, zeigt, wie sie sich teilen und zu wandern beginnen, und endet, wenn Kopf und Schwanz deutlich zu erkennen sind. Wittbrodt und sein Team haben einzelne Zellen durch ein Fluoreszenz-Gen markiert. Nun beobachten sie, was aus welcher Zelle wird. Manchmal spulen sie zurück, etwa um zu erfahren, wo eine Zelle herkam, die letztlich im Auge ihren Ort findet. So haben sie das bis dahin geltende Dogma widerlegt, Zellen marschierten wie Nachbarn in Reih und Glied an ihren Zielort. Früher faszinierte Wittbrodt die Molekularbiologie, weil man Hypothesen nur anhand ausgeklügelter Experimente prüfen konnte. „Heute ist sie nur noch ein Werkzeug. Wir können Prozesse unmittelbar beobachten und analysieren.“
Der Schlüssel zu diesen neuen Möglichkeiten steht in einem Nebenraum von Wittbrodts Labor: das „Digital Scan Laser Light Sheet Microscope“ (DSLM). Es regt einzelne Zellschichten im Organismus zur Fluoreszenz an – durch eine Lichtebene, wie sie auch der enge Spalt zwischen zwei Vorhängen erzeugt. Der Heidelberger Physiker Ernst Stelzer vom Europäischen Labor für Molekularbiologie und dessen Gruppe haben es auf Wittbrodts Initiative hin entwickelt – die Idee entstand in einer Kaffeepause. „Wir wollten endlich in lebende Tiere hineinblicken“, sagt Wittbrodt. Nun bekommt er wie im Eierschneider 500 Bilder pro Minute und macht daraus einen Film. Das DSLM braucht rund 10.000 Mal weniger Licht als herkömmliche Mikroskope. Wurden Embryos vorher zu Tode gebleicht, können die Forscher ihnen nun bis zu 24 Stunden lang live beim Wachsen zusehen. Für diese bahnbrechende Entwicklung erhielten Wittbrodt und Stelzer 2009 den HMLS Investigator Award der Initiative „Heidelberg Molecular Life Sciences“ (HMLS).
Aus Wittbrodts Büro heraus blickt man auf das Heidelberger Schloss. „Das sieht nach Tradition und Stillstand aus“, sagt er, „dabei ist hier ständig alles im Fluss.“ Kurze Wege, flexible Entscheidungen – das hat ihn an der Universität Heidelberg positiv überrascht. Als sie einen guten Kollegen zu verlieren drohten, dem anderswo ein Sequenzierlabor geboten wurde, legten mehrere Wissenschaftler und das Exzellenzcluster CellNetworks zusammen, um die Geräte für rund 800.000 Euro selbst anzuschaffen. „Das geht nur, wenn sich keiner zu wichtig nimmt“, sagt Wittbrodt. So war es auch bei der Gründung des Zentrums für Organismusstudien (COS), das Botanik und Zoologie vereint – wiederum eine Cafeteria-Idee. „Die Botaniker kennen sich mit Metaboliten super aus, wir sind Experten für Entwicklung und Bildgebung“, erklärt er. „Das ergänzt sich perfekt. Zusammen können wir in Zellen hineinschauen, während sie wachsen und sich bewegen, und sie an die Gegebenheiten anpassen. Das ist einzigartig.“
Im Labor neben Wittbrodts Büro herrscht Hochbetrieb. 22 Doktoranden, Postdocs sowie technische und administrative Mitarbeiter zählen zu der Arbeitsgruppe des Biologen. Sieben seiner früheren Doktoranden und neun seiner Postdocs sind heute Professoren – auch eine Folge seines Führungsstils. „Ich schaue meinen Mitarbeitern nicht ständig ins Laborbuch. Sonst bin ich irgendwann der einzige, der denkt.“ So schuf einer von Wittbrodts Doktoranden Fische, in denen das Gen für grün fluoreszierendes Protein (GFP) ständig und in allen Zellen aktiv ist. Er taufte sie „Wimbledon“, nach dem ewig grünen „heiligen“ Rasen in der Tenniswelt. Als die Forscher diese Zellen in die Region des Fischauges transplantierten, in der aus Stammzellen immer neue Netzhautzellen entstehen, machten sie eine erstaunliche Entdeckung: Nicht etwa bildeten sich aus einer Stammzelle nur ganz bestimmte Zelltypen der Netzhaut wie retinale Ganglionzellen oder amakrine Zellen, vielmehr prägten Stammzellen gleich die komplette retinale Säule aus, also all die verschiedenen Zelltypen, die zusammen die Netzhaut ergeben.
Vieles weist darauf hin, dass im Menschenauge, in dem eine solche Stammzellregion fehlt, die strukturbildenden Müller-Gliazellen deren multipotente Funktion übernehmen. „Vielleicht werden wir irgendwann einmal bei Verletzungen nur noch diese Zellen auf geeignete Weise stimulieren müssen, und sie erledigen eigenständig den Reparaturdienst“, entwirft Wittbrodt ein Zukunftsszenario. Noch in diesem Jahr will er dazu publizieren. Es wäre nicht sein erster Coup.
Kurzbiographie
Prof. Dr. Joachim Wittbrodt
Joachim Wittbrodt hat Biologie in München studiert und ist seit 2007 sowohl Professor für Molekulare Entwicklungsbiologie und Physiologie in Heidelberg als auch Direktor des Instituts für Toxikologie und Genetik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Er leitet das Zentrum für Organismusstudien (COS) der Universität Heidelberg, den Zusammenschluss der klassischen Fachbereiche Botanik und Zoologie, und erforscht die Entwicklung von Fischembryos von den ersten Zellen bis zum ausdifferenzierten Körper. Wittbrodt ist zudem Sprecher des Heidelberger Sonderforschungsbereichs „Molekulare und zelluläre Grundlagen neuraler Entwicklungsprozesse“ und gehört dem Interdisziplinären Zentrum für Neurowissenschaften an. 2009 erhielt er zusammen mit dem Heidelberger Physiker Ernst Stelzer den HMLS Investigator Award der Initiative „Heidelberg Molecular Life Sciences“ (HMLS).