Der Tanz der Chromosomen
Die Biologin Sylvia Erhardt erforscht, wie Chromosomen während der Zellteilung korrekt den Tochterzellen zugeordnet werden und welche Rolle eine unscheinbar kleine chromosomale Einschnürung dabei spielt.
Jeden Tag kommt es in unserem Körper zu unzähligen kleinen Wundern: Eine Zelle teilt sich und vermacht den beiden neu entstehenden Zellen alles, was sie an Fähigkeiten besitzt. Verantwortlich dafür, dass das genetische Erbe einer Zelle gerecht an die Tochterzellen verteilt wird, sind die Zentromere. So werden die eigentümlichen kleinen Einschnürungen genannt, die sich im Laufe der Zellteilung auf den Chromosomen, den Trägern der Erbinformation, zeigen. Die Einschnürungen mögen unscheinbar aussehen, ihre Funktion aber ist lebenswichtig: So wie es ohne Mozart keine Zauberflöte gäbe, gibt es ohne Zentromere keine Zellteilung und damit keine neuen Zellen, die alte ersetzen oder während der Embryonalentwicklung einen kompletten Organismus entstehen lassen.
Die Biologin Sylvia Erhardt erforscht im Exzellenzcluster CellNetworks am Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Heidelberg (ZMBH), wie die noch immer geheimnisvolle Chromosomenregion funktioniert und welchen Anteil fehlerhaft arbeitende Zentromere am Entstehen von Krankheiten haben, beispielsweise von Krebs oder Geburtsdefekten. „Wissenschaft kann man nicht als Einzelkämpfer machen“, betont sie. „CellNetworks bietet mir hier in Heidelberg eine hervorragende Plattform für den interdisziplinären Gedankenaustausch und alle Voraussetzungen für eine gute Forschung.“ „Das Zentromer ist eine Art Anker“, veranschaulicht Erhardt die komplexe Funktion der kleinen Einschnürungen, mit der sie sich tagtäglich beschäftigt.
An diesem Anker bildet sich bei einem Chromosom, das sich zur Teilung anschickt, eine spezielle, aus vielen verschiedenen Proteinen bestehende Struktur, das „Kinetochor“. Hier setzen die Fasern des Spindelapparates an. Unter dem Mikroskop lässt sich beobachten, wie die Spindelfasern die Chromosomen am Kinetochor packen und sie bei der Zellteilung in der Mittellinie der Zelle positionieren. Wenig später ist zu sehen, dass sich die Chromosomen geteilt haben und von den Spindelfasern auseinandergezogen werden. Anschließend schnürt sich die Zelle in der Mitte durch: Aus einer Zelle sind zwei geworden. „Wenn das Kinetochor nicht korrekt funktioniert, werden den Tochterzellen zu viele oder zu wenige Chromosomen zugewiesen“, erklärt Sylvia Erhardt. Solche „Chromosomenanomalien“ sind typisch für Krebszellen. Wenn die Funktion der Region, die für das korrekte Verteilen der Chromosomen verantwortlich ist, erst besser verstanden ist, könnten sich konkrete Ansatzpunkte für eine gezielte und bessere Krebstherapie ergeben.
Sylvia Erhardt ist besonders an den epigenetischen Einflüssen interessiert, die dafür sorgen, dass sich funktionsfähige Zentromere ausbilden. Epigenetische Einflüsse (die griechische Vorsilbe „epi“ bedeutet „über“ oder „auf“) sind Mechanismen und Faktoren, die auf einer der DNS übergeordneten Ebene auf die Erbinformation einwirken. Hierzu zählen die Histone - Proteine, von denen die Wissenschaftler früher glaubten, sie seien lediglich das Verpackungsmaterial der DNS. Heute wissen die Forscher, dass Histone sehr viel mehr sind: Sie entscheiden mit, welche Gene abgeschrieben und in Protein übersetzt werden. Eine bestimmte Histon-Variante namens „CENP-A“ (Centromeric Protein A) kommt nur in der Zentromer-Region der Chromosomen vor: „Ohne dieses spezielle Histon“, erläutert Sylvia Erhardt, „kann sich das Kinetochor, die Ansatzstelle für die Spindelfasern, nicht ausbilden.“ Sehr viel mehr weiß die Wissenschaft über die auffällige Histon-Variante bislang allerdings nicht.
Sylvia Erhardt und ihre Mitarbeiter haben es sich zur Aufgabe gemacht, das Zentromer und seine epigenetische Regulierung zu erforschen und bis ins Detail nachzuvollziehen, wie Chromosomen während der Zellteilung ihr neuer Platz zugewiesen wird. Die Choreografie der „Chromosomen-Segregation“ ist ebenso faszinierend wie rätselhaft. „Je mehr man davon versteht“, sagt Sylvia Erhardt, „desto spannender wird es.“
Kurzbiografie
Dr. Sylvia Erhardt
Sylvia Erhardt studierte Biologie in Heidelberg. Beeindruckt von dem damals noch jungen Forschungsfeld der „Epigenetik“ schloss sie sich für ihre Diplomarbeit der Heidelberger Gruppe von Renato Paro, einem Pionier der Epigenetikforschung, an. Nach Forschungsaufenthalten in Cambridge, England, und in Berkeley, USA, kam Erhardt Ende 2007 zusammen mit ihrem Mann, Aubry Miller, und ihrer gemeinsamen Tochter zurück nach Heidelberg. Erhardt übernahm eine Nachwuchsgruppenleiterstelle im Exzellenzcluster CellNetworks, Aubry Miller wurde mit Unterstützung von CellNetworks und des ZMBH eine Stelle als Chemiker am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) vermittelt. „Ohne dieses Angebot für meinen Mann wären wir nicht zurück nach Heidelberg gekommen“, stellt die inzwischen zweifache Mutter klar.