Kinderstreit in der Milchstraße –
Wer flog über den Galaxienrand?
Die junge schottische Astrophysikerin Rowan Smith half in Heidelberg bei einer überraschenden Entdeckung: Die ersten Sterne waren nicht allein.
Der Anruf von der Landessternwarte könnte täglich kommen. Rowan Smith würde abheben, für diese knappe Botschaft reicht das Deutsch der jungen Schottin allemal: „Wir haben einen gefunden.” Einen roten Zwerg etwa könnten sie ihr verkünden oder Gammastrahlung aus dem frühen Universum. Denn die Beobachter der Sternwarte suchen Belege für die Ergebnisse einer Simulation von Rowan Smith, Postdoktorandin am Institut für Theoretische Astrophysik (ITA) des Zentrums für Astronomie der Universität Heidelberg, und ihren Kollegen. Die Entdeckung, die die Wissenschaftler bisher nur am Computer gemacht und im Februar 2011 in der Zeitschrift „Science” veröffentlicht haben, könnte für einen Paradigmenwechsel in der Astronomie sorgen: Die ersten Sterne waren nicht allein.
Frühere Theorien waren davon ausgegangen, dass die ersten Sterne einsame Ansammlungen von Helium und Wasserstoff waren. Sie wuchsen auf die 100- bis 300-fache Masse der Sonne und verbrannten ihren Treibstoff schnell: durch Kernfusion. Die enorme Masse sorgte für konstant hohen Druck. Schon nach rund einer Million Jahren allerdings ging der Fusion die Energie aus, die metallfreien Riesen fielen in sich zusammen und explodierten. Diese sogenannten Supernovae markierten einen Meilenstein der kosmischen Evolution, weil im Inneren der ersten Sterne wie in riesigen Öfen neue Elemente entstanden. „Alles, was wir hier sehen”, sagt Smith und zeigt über den Marktplatz im Heidelberger Stadtteil Neuenheim, „besteht aus Elementen, die irgendwann in solchen stellaren Brennöfen entstanden”. Wenn sie vom Anfang des Universums erzählt, ist man plötzlich weit weg von der lebhaften Atmosphäre hier im Café.
An der schottischen Eliteuniversität St. Andrews hatte Smith die Sternentstehung im lokalen Universum untersucht, unserer heutigen Milchstraße. Sie war fasziniert davon, dass die Gaswolken, in denen Sterne heranwachsen, je nach Temperatur und chemischer Zusammensetzung ganz unterschiedlich große Sterne hervorbringen. „Doch wo wir auch hinschauen in der Milchstraße und in benachbarten Galaxien, wir finden immer eine ähnliche Verteilung schwerer und leichterer Sterne. Das will ich erklären.”
Doch wie genau beeinflusst Temperatur die Entstehung junger Sterne? Lange war nur klar, dass die Gaswolken, aus denen Sterne entstehen, sich durch Hitzestrahlung ausdehnen. Die Temperatur kämpft also mit der Schwerkraft darum, ob die Gaswolke zu einem Stern zusammenstürzt oder nicht. Klarer wurde das Bild erst, als der Heidelberger Astrophysiker Simon Glover die Chemie des Weltalls und typische Reaktionsgleichungen so detailliert berechnete, dass man greifbare Werte in die Simulationen der Sternentstehung einspeisen konnte. Ein Fall für Rowan Smith. Kurz vor ihrem 25. Geburtstag hatte sie ihre Doktorarbeit eingereicht. In Heidelberg konnte sie nun, gefördert durch Mittel aus dem Innovationsfonds FRONTIER der Exzellenzinitiative, weiterforschen. Ihr neuer Fokus: die Zeit, als aus der kosmischen Finsternis Dunkler Materie und weit verteiltem Gas die ersten Sterne erwuchsen. „Diese Phase ist nicht ganz einfach zu beobachten”, sagt sie. „Zumindest dachten wir das bisher.”
Denn seit der Entdeckung der Heidelberger Forscher sind Zweifel erlaubt. Sie zeigten, dass die ersten Sterne eben keine Einzelgänger waren, sondern dass oft mindestens zwei, manchmal sogar mehr Sterne aus einer einzigen Gaswolke entstanden sein müssen. Ein Kinderkrieg in der Milchstraße, bei dem die Fetzen flogen. „Es wäre möglich, dass damals kleinere Sterne ins Weltall gespuckt wurden”, erklärt Rowan Smith. Sollten sie weniger als 80 Prozent der Masse der Sonne enthalten haben, dann könnten sie als „Rote Zwerge” bis heute überlebt haben – und mithilfe von Teleskopen in Chile oder Hawaii detektiert werden. „Klar hätten wir sie dann auch schon früher sehen können”, räumt Smith ein, „aber überraschen würde mich ein Anruf von der Sternwarte trotzdem nicht.” Auch die Röntgen- oder Gammastrahlung, die entsteht, wenn einer dieser Binärsterne stirbt und sein Gas auf den anderen übergeht, müsste heute noch sichtbar sein. Dabei hatten die früheren Forscher gar nicht grundlegend falschgelegen. Nur konnten sie nicht weiterrechnen, sobald in ihrer Simulation ein erster Stern entstanden war. Je extremer sich nämlich die Gaswolke zu einem Kern verdichtete, umso feiner wurden die erforderlichen Zeitschritte, die der Großrechner durchspielen musste. „Ab einer gewissen Dichte wird das schlicht zu teuer”, erklärt Smiths Kollege Paul Clark, Erstautor des Artikels in der Zeitschrift „Science”. Mit ihm hatte Smith schon in St. Andrews zusammengearbeitet.
Die Heidelberger Astrophysiker bedienten sich eines Tricks. Statt den immer dichter werdenden Kern aus Gas im Detail zu betrachten, ersetzten sie ihn durch einen Platzhalter, einen sogenannten „Sink Particle”. „Als ob wir ihm sagten: 'Okay, du hast gewonnen, du darfst ein Stern werden, aber wir wollen wissen, wie es weitergeht'", erklärt Rowan Smith. Und tatsächlich: Nicht alles einfallende Material konnte schnell genug in das ursprüngliche Zentrum weitergereicht werden.
Stattdessen sammelte sich der größte Teil in einer rotationsgestützten Scheibe an. Irgendwann zerbrach diese sogenannte Akkretionsscheibe in mehrere Spiralarme mit weiteren Sternen – und das innerhalb von weniger als 200 Jahren.
Bevor die Forscher ihre Entdeckung bei „Science” zur Veröffentlichung vorschlugen, wussten sie um einen berechtigten Einwand: Weil es im frühen Universum nur Helium und Wasserstoff gab, hatten die ersten Sterne es schwer, ausreichend abzukühlen. Damit sich aber die Kerne in der Gaswolke weiter verdichten konnten, mussten sie Wärme abgeben – dabei diente ihnen die Spaltung von molekularem zu atomarem Wasserstoff als Thermostat. Doch irgendwann, so lautete eine gängige Annahme, spätestens, wenn aller Wasserstoff in atomarer Form vorläge, würde es zu heiß werden, sodass kein neuer Stern mehr entstehen könne. Rowan Smith konnte zeigen, dass zwar die Hitze des ersten Sterns in einem gewissen Abstand keinen zweiten erlaubte, dass aber durchaus noch weitere Sterne in derselben Akkretionsscheibe wachsen konnten, schon ab der zwanzigfachen Distanz zwischen Erde und Sonne. „Sie hat damit den wichtigsten Einwand gegen unsere Veröffentlichung schon vorab entkräftet”, sagt Paul Clark. Er war begeistert, ebenso wie Ralf Klessen, der Chef der beiden am ITA.
Dass neben Smith und Clark noch weitere Forscher aus Großbritannien nach Heidelberg kamen, ist übrigens kein Zufall. „Dort wurde die Forschungsförderung in der Finanzkrise extrem zurückgefahren, besonders die Finanzierung von Postdocs”, erzählt Rowan Smith. „In Heidelberg konnte ich auf hohem Niveau weiterarbeiten, das war wichtig.” Clark war schon 2006, drei Jahre vor ihr, an die Universität Heidelberg gekommen. Seither ist die von Ralf Klessen in diesem Jahr gegründete Arbeitsgruppe Sternentstehung auf mehr als 15 Forscher angewach sen. „Mit dem ITA, der Landessternwarte und dem Astronomischen Rechen-Institut sowie dem Max-Planck-Institut für Astronomie ist Heidelberg einer der aufregendsten Orte der Welt für Astrophysiker”, sagt Smith. Besonders froh ist sie um den Supercomputer Kolob, der im Herbst 2008 seinen Betrieb aufnahm, zum Teil finanziert aus dem Innovationsfonds FRONTIER. „So können wir uns voll auf die Forschung konzentrieren und müssen nicht ständig irgendwo Rechenzeit beantragen.”
Smith will nun wissen, wie Sterne miteinander interagieren und unter welchen Umständen sie aus der Gaswolke ausgespuckt werden könnten. Bald fliegt sie deshalb nach Japan. In Kyoto wird sie auf Forscher treffen, die genau dort ansetzen, wo ihre Gruppe bisher aufhörte: im Inneren der Sink Particles.
Rowan Smith war schon mit 25 Jahren promoviert und wuchs in Heidelberg in eine Gruppe älterer und erfahrener Wissenschaftler hinein, die sie mit offenen Armen empfingen. „Sie ist hier mit viel Energie eingetaucht”, erinnert sich Paul Clark. Und das auch abseits des ITA – Smith stürzte sich ins Heidelberger Leben, lernte Salsatanzen im „Ziegler” und lud die Kollegen zu schottischen Butterkeksen in ihre Wohnung in Neuenheim. Ihre Heimat Wishaw nahe Glasgow besucht sie, sooft sie kann. Zuletzt zu Weihnachten, als sie in der Kirche eine Rede halten sollte, „vor Industriearbeitern und einfachen Leuten”, wie sie sagt. Eine gute Übung, komplizierte Forschung auch für Laien auf den Punkt zu bringen. Denn als Thema hatte sie das Naheliegende gewählt: astronomische Theorien über den Weihnachtsstern.
Kurzbiographie
Dr. Rowan Smith
Rowan Smith hat Astrophysik an der University of St. Andrews in Schottland studiert und dort 2009 im Alter von nur 25 Jahren ihre Promotion eingereicht. Seitdem erforscht sie am Institut für Theoretische Astrophysik als Postdoc die Entstehung der ersten Sterne nach dem Urknall. Dazu simuliert sie die exakte chemische Zusammensetzung des frühen Universums und nutzt ihre Kenntnisse aus der Beobachtung momentaner Sternentwicklung. Ihre Stelle wird durch den Innovationsfonds FRONTIER der Universität finanziert. Inzwischen hat Rowan Smith ihre eigene Stelle bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft eingeworben, sodass sie über das Ende der FRONTIER-Förderung hinaus in Heidelberg forschen kann.